Die Geliehene Zeit
den Brief sorgfältig in seinem Kittel. Über die Hintertreppe verschwand er in der Nacht, seinem natürlichen Element.
Jamie sah ihm lange nach, dann wandte er sich zu mir um und starrte mich plötzlich entsetzt an.
»Himmel, Sassenach! Du bist ja kreidebleich! Fehlt dir was?«
»Nur etwas zu essen«, antwortete ich.
Sofort klingelte er nach dem Abendessen, das wir dann vor dem Kamin einnahmen, während ich ihm von Louise erzählte. Zu meinem Erstaunen nahm er den Sachverhalt zwar mit einem Stirnrunzeln
zur Kenntnis, und seine auf gälisch gemurmelten Bemerkungen über Louise und Charles klangen wenig schmeichelhaft, aber er war mit meiner Lösung des Problems einverstanden.
»Ich dachte, du würdest dich darüber aufregen«, meinte ich, während ich Brot in das saftige Cassoulet tunkte. Die warmen, mit Speck gewürzten Bohnen taten gut und beruhigten mich. Draußen pfiff ein kalter Nachtwind, doch vor dem Kaminfeuer hatten wir es warm und behaglich.
»Darüber, daß Louise de La Tour ihrem Mann das Kind eines anderen unterschieben will?« fragte Jamie, während er mit dem Finger die Soßenreste von seinem Teller wischte. »Na ja, ich bin davon nicht gerade begeistert, das kann ich dir sagen, Sassenach. Es ist ein gemeines Spiel, das sie mit ihrem Mann treibt, aber was soll die arme Frau sonst tun?« Auf seinem Gesicht machte sich ein gequältes Lächeln breit.
»Außerdem steht es mir nicht zu, mich moralisch über andere zu erheben. Ich stehle Briefe, spioniere und versuche, den Mann zu behindern, der in den Augen meiner Familie der rechtmäßige König ist. Nein, Sassenach, ich würde nicht wollen, daß mich jemand nach meinen Taten beurteilt.«
»Aber du hast einen guten Grund für deine Taten!« hielt ich ihm entgegen.
Er zuckte mit den Achseln. Im Schein des flackernden Feuers wirkten seine Wangen eingefallener und die Schatten um seine Augen dunkler. Das Licht ließ ihn älter erscheinen, als er war - noch keine vierundzwanzig, wie ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen mußte.
»Aye. Und Louise de La Tour hat auch einen guten Grund. Sie will ein Menschenleben retten, und ich zehntausend. Ist das eine Entschuldigung dafür, daß ich den kleinen Fergus in Gefahr bringe... und Jareds Geschäft... und dich?« Er wandte den Kopf und lächelte mich an. Das Licht spiegelte sich auf seinem langen, geraden Nasenrücken, und im Schein des Feuers funkelten seine Augen wie Saphire.
»Nein, es wird mir keine schlaflosen Nächte bereiten, daß ich anderer Leute Briefe öffne«, sagte er. »Vielleicht steht uns noch viel Schlimmeres bevor, Claire, und ich kann nicht im voraus sagen, wieviel mein Gewissen aushält. Am besten stellt man es nicht allzubald auf die Probe.«
Dagegen ließ sich nichts sagen; er hatte vollkommen recht. Als ich seine Wange streichelte, legte er seine Hand auf die meine, dann drückte er einen sanften Kuß auf meine Handfläche.
»Nun«, meinte er in geschäftsmäßigem Ton, »nachdem wir gegessen haben, könnten wir uns doch jetzt den Brief ansehen, was meinst du?«
Der Brief war offensichtlich verschlüsselt. Für den Fall, daß er abgefangen wurde, erklärte Jamie.
»Wer würde denn die Post Seiner Majestät abfangen wollen?« fragte ich. »Außer uns, meine ich.«
»Beinahe jeder, Sassenach«, erwiderte Jamie, belustigt über meine Naivität. »Die Spione von Louis, von Duverney, von Philipp von Spanien. Die jakobitischen Adligen und solche, die sich als Jakobiten ausgeben würden, wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht. Personen, die mit Nachrichten handeln und sich einen Dreck darum scheren, ob Leben oder Tod anderer Menschen davon abhängt. Der Papst höchstpersönlich; der Heilige Stuhl unterstützt die Stuarts im Exil seit fünfzig Jahren - gewiß hat er ein Auge darauf, was sie tun.« Er tippte auf die Abschrift des Briefes, den James an seinen Sohn gesandt hatte.
»Das Siegel auf dem Brief dürfte bereits dreimal aufgebrochen worden sein, bevor ich ihn in die Hand bekommen habe«, meinte er.
»Ich verstehe«, erwiderte ich. »Kein Wunder, daß James seine Briefe verschlüsselt. Meinst du, du kannst herausfinden, worum es geht?«
Jamie nahm stirnrunzelnd die Blätter in die Hand. »Ich weiß nicht; manches schon, aber manches ist mir auch völlig unklar. Aber ich denke, ich könnte es herausbringen, wenn ich noch ein paar andere Briefe des Königs zu Gesicht bekäme. Vielleicht kann Fergus da noch das eine oder andere für mich tun.« Er faltete die
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