Die Geliehene Zeit
nicht mit leeren Händen an dem Kerl in der Gasse vorbeigehen.«
Mit der Dunedin in der Hand und einem wachsamen Blick auf die Passanten war Jamie vor die Tür getreten und hatte sich dem Wachposten genähert.
Der Mann schien ihn kaum zu beachten; sein Blick verriet keinerlei böse Absichten. Jamie dachte fast, seine innere Stimme hätte ihn
getrogen, doch da bemerkte er ein kurzes Aufflackern im Blick des Mannes. Seinem lebensrettenden Instinkt folgend, sprang Jamie vor, schlug den Kerl zu Boden und landete mit dem Gesicht auf dem dreckigen Straßenpflaster.
Die Leute stoben unter Entsetzensschreien auseinander, und als Jamie aufsprang, sah er das Wurfmesser, das ihn verfehlt hatte und zitternd in den Brettern einer Bude steckte.
»Bis dahin war ich mir nicht völlig sicher, ob sie es tatsächlich auf mich abgesehen hatten, aber jetzt wußte ich Bescheid«, meinte Jamie gelassen.
Die Wurst, die er noch immer umklammerte, hatte sich dann abermals als nützlich erwiesen, als er sie einem Angreifer ins Gesicht schlug.
»Ich glaube, ich habe ihm die Nase gebrochen«, sagte er nachdenklich. »Jedenfalls taumelte er rückwärts, ich schubste ihn zur Seite und rannte die Rue Pelletier hinunter.«
Beim Anblick eines mit wehendem Kilt dahinstürmenden Schotten spritzte die Menge auf der Straße auseinander wie eine Schar aufgescheuchter Gänse. Jamie drehte sich nicht um; an den empörten Rufen der Passanten erkannte er, daß ihm seine Gegner noch immer auf den Fersen waren.
In diesem Stadtviertel patrouillierte die königliche Wache nur selten, und die Menschenmenge auf der Straße bot - abgesehen von dem Hindernis, das sie für die Verfolger darstellte - kaum Schutz. Niemand wollte sich wegen eines Ausländers in eine gewalttätige Auseinandersetzung einmischen.
»Von der Rue Pelletier zweigen keine Gassen ab. Ich brauchte aber zumindest irgendeine Stelle, wo ich das Schwert ziehen konnte und eine Mauer im Rücken hatte«, erklärte Jamie. »Also drückte ich gegen die Türen, an denen ich vorbeikam, bis ich eine fand, die aufging.«
Er stürzte in den düsteren Eingangsflur, vorbei an einem verdutzten Pförtner und stand plötzlich mitten in einem großen, hellerleuchteten und parfümgeschwängerten Raum - im Salon einer gewissen Madame Elise.
»Aha«, meinte ich spröde. »Ich hoffe, du hast dort nicht dein, äh... Schwert gezogen?«
Jamie sah mich böse an, ließ sich aber nicht zu einer direkten Antwort herab.
»Überleg mal, Sassenach«, erwiderte er kühl, »wie man sich vorkommt, wenn man plötzlich mitten in einem Bordell steht und eine riesige Wurst in der Hand hat.«
Das konnte ich mir allerdings sehr lebhaft vorstellen und brach in schallendes Gelächter aus.
»Himmel, ich hätte dich zu gern gesehen!« verkündete ich.
»Zum Glück hast du das nicht!« entgegnete er hitzig. Seine Wangen glühten.
Ohne auf die Äußerungen der faszinierten Damen einzugehen, hatte Jamie sich verschämt einen Weg durch das - wie er es nannte - »Durcheinander von nackten Armen und Beinen« gebahnt, bis er an einer Wand Fergus erblickte, der den Eindringling mit großen Augen anstarrte.
Jamie stürzte sich auf diesen einzigen Geschlechtsgenossen weit und breit, packte ihn an der Schulter und bat ihn inständig, ihm sofort einen Fluchtweg zu zeigen.
»Ich hörte, wie draußen im Flur ein Tumult losbrach«, erzählte er, »und da wußte ich, daß sie noch hinter mir her waren. Ich wollte nicht einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten, wenn mir ein Haufen nackter Frauen im Weg stand.«
»Wirklich eine erschütternde Aussicht.« Ich schürzte die Lippen. »Aber offenbar hat er dich herausgebracht.«
»Aye. Er zögerte keinen Augenblick, der gute Junge. ›Da lang, Monsieur!< sagte er. Dann ging’s die Treppe hoch, in ein Zimmer und durchs Fenster aufs Dach, und schon waren wir draußen, alle beide.« Jamie warf einen liebevollen Blick auf seinen neuen Angestellten.
»Weißt du«, bemerkte ich, »es gibt durchaus Frauen, die kein Wort von so einer Geschichte glauben würden.«
Jamie sah mich erstaunt an. »Was? Warum denn nicht?«
»Vielleicht«, erwiderte ich, »weil sie nicht mit dir verheiratet sind. Ich bin froh, daß du nicht vom Pfad der Tugend abgewichen bist, aber im Moment würde mich mehr interessieren, wer die Kerle waren, die dich verfolgt haben.«
»Ich hatte währenddessen nicht viel Zeit, darüber nachzudenken«, entgegnete Jamie. »Und auch jetzt weiß ich nicht, wer sie waren und warum sie
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