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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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folgen.
    »Kommen Sie mit, Madonna. Ich habe etwas für Sie.«
    Zu meiner Verwunderung bückte er sich und war plötzlich unter
dem Tisch verschwunden. Als er nicht mehr auftauchte, beugte ich mich hinunter und lugte unter den Tisch. Eine glühende Kohlenschicht bedeckte die Feuerstelle. Aber zu beiden Seiten war etwas Platz frei, und im Schatten des Mauerwerks unter dem Tisch befand sich eine Öffnung.
    Ich zögerte eine Sekunde, schürzte dann meine Röcke und folgte ihm.
    Der Raum, der dahinterlag, war zwar klein, jedoch hoch genug, daß man aufrecht darin stehen konnte. Von außen hätte man diese verborgene Kammer nicht vermutet.
    Zwei Wände wurden von wabenartigen Fächern eingenommen, und in jedem der staubfreien und makellos sauberen Kästchen lag ein Tierschädel. Entsetzt wich ich einen Schritt zurück. Sämtliche Augenhöhlen schienen auf mich gerichtet, die schimmernden Zähne zum Willkommensgruß gebleckt.
    Ich mußte etliche Male blinzeln, bis ich Maitre Raymond entdeckte. Vorsichtig hockte er auf dem Boden seines Beinhauses. Mit abwehrend erhobenen Armen hielt er den Blick auf mich gerichtet, als erwartete er, daß ich schrie oder mich auf ihn warf. Aber da ich in meinem Leben schon weitaus Furchteinflößenderes gesehen hatte als polierte Knochen, trat ich vor, um die Schädel genauer zu betrachten.
    Offenbar war alles vorhanden: winzige Schädel von Fledermäusen und verschiedenen Mäusearten, die Knochen durchscheinend, die kleinen Zähne gefährlich scharf, Pferde mit wuchtigen, krummschwertähnlichen Kiefern, mit denen man mühelos Scharen von Philistern hätte niedermähen können, bis hin zu Schädeln von Eseln, die, wenn auch kleiner, genauso stabil wie die der mächtigen Zugpferde waren.
    Sie strahlten Ruhe und Schönheit aus, als lebte in ihnen noch der Geist ihrer Besitzer, als trugen die Knochen die Erinnerung an Fleisch und Fell in sich.
    Ich berührte einen der Schädel. Er war gar nicht so kalt, wie ich vermutet hatte.
    Ich hatte menschliche Skelette gesehen, mit denen man weit weniger würdevoll verfahren war. Die Schädel der christlichen Märtyrer hatte man früher in den Katakomben einfach auf einen Haufen geworfen und ihre Schenkelknochen wie Mikadostäbchen übereinandergestapelt.

    »Ein Bär?« fragte ich leise. Welch ein großer Schädel, mit scharfen Eckzähnen, aber seltsam abgeflachten Backenzähnen.
    »Ja, Madonna.« Raymond entspannte sich, als er meine Furchtlosigkeit bemerkte. Zart strich er über die Rundung des festen Schädels. »Sehen Sie die Zähne? Ein Fischvertilger, Fleischfresser, aber gleichzeitig ein Beerenfresser und Freund von Larven. Sie verhungern selten, weil ihnen alles schmeckt.«
    Bewundernd ging ich von einem Fach zum nächsten, berührte mal hier, mal dort etwas.
    »Sie sind wundervoll«, sagte ich. Wir sprachen gedämpft, als könnten lautere Töne die Ruhe der Schlafenden stören.
    »Ja.« Raymond strich ebenso zart wie ich über die Knochen. »In ihnen ist der Charakter des Tieres verborgen. Aus dem, was übrig ist, läßt sich ziemlich genau sagen, was einmal war.«
    »Diese dort«, ich deutete nach oben, »sind etwas Besonderes, nicht wahr?«
    »O ja, Madonna. Es sind Wölfe. Sehr alte Wölfe.« Vorsichtig nahm er einen der Schädel herunter. Er hatte eine lange Schnauze mit starken Eck- und breiten Reißzähnen. Der Sagittalbogen trat steif und dominierend aus dem rückwärtigen Schädel hervor und zeugte von dem kräftigen Nacken, der den Kopf einmal getragen hatte.
    Die Schädel waren nicht weiß wie die anderen, sondern fleckig und braungestreift, und sie glänzten wie poliert.
    »Diese Tiere gibt es nicht mehr, Madonna.«
    »Heißt das, sie sind ausgestorben?« Fasziniert strich ich noch einmal über den Schädel. »Wo um alles in der Welt haben Sie die her?«
    »Sie stammen aus einem unter der Erde verborgenen Torfmoor, Madonna.«
    Bei genauerem Hinsehen erkannte ich den Unterschied zwischen den Schädeln vor mir und den jüngeren, weißeren auf der anderen Seite. Die Tiere waren weitaus größer gewesen als normale Wölfe und hatten Kiefer gehabt, mit denen sie einem flüchtenden Elch gewiß mühelos die Beine hatten brechen oder einem gestürzten Reh die Kehle hatten durchbeißen können.
    Ein leises Frösteln durchfuhr mich, als ich den Schädel berührte. Ich mußte an die Wölfe vor dem Wentworth-Gefängnis denken, die sich in der eisigen Dämmerung an mich herangepirscht hatten,
nachdem ich ihren Gefährten getötet hatte. Das war

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