Die Geliehene Zeit
Fehlgeburt, keine Blinddarmentzündung, und erst recht keine Leberentzündung. Gift war es eigentlich auch nicht. Es war Faulbaumrinde.
»Sie...« Mit drohender Gebärde ging ich auf Maître Raymond los, der hinter seinem Arbeitstisch Zuflucht gesucht hatte. »Sie! Sie verdammter, froschgesichtiger kleiner Wurm!«
»Ich, Madonna? Ich habe Ihnen doch nichts getan, oder?«
»Abgesehen von einem unbeschreiblichen Durchfall im Beisein von mehr als dreißig Menschen, die mir einreden wollten, es sei eine Fehlgeburt, während mein Mann vor Angst fast umgekommen ist, abgesehen davon haben Sie mir nichts angetan!«
»Ach, Ihr Mann war auch dabei?« Maître Raymond fühlte sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut.
»Ganz richtig!« bestätigte ich. Mit Mühe und Not hatte ich Jamie davon abhalten können, mich in Maitre Raymonds Apotheke zu begleiten, um ihn gewaltsam zum Sprechen zu bringen. Schließlich hatte ich ihn dazu überredet, in der Kutsche zu warten, während ich mit dem amphibienähnlichen Besitzer ein ernstes Wörtchen reden wollte.
»Sie sind ja nicht gestorben, Madame«, stellte der Kräuterkundige fest. Da er keine nennenswerten Augenbrauen besaß, zog er einen Teil seiner Stirn hoch. »Aber Sie hätten sterben können.«
Im Tumult der Nacht und der darauffolgenden Schwäche hatte ich das völlig außer acht gelassen.
»Es war also kein böser Streich?« fragte ich ein wenig kleinlaut. »Wollte mich tatsächlich jemand umbringen? Und ich bin nur deshalb noch am Leben, weil Sie ein Mann mit Gewissen sind?«
»Vielleicht verdanken Sie Ihr Leben nicht unbedingt dem Umstand, daß ich ein Gewissen habe, Madonna. Es mag ein Streich gewesen sein - vermutlich gibt es noch andere Händler, die Faulbaumrinde verkaufen. Ich habe diese Substanz im letzten Monat an zwei Personen verkauft - und keine von beiden hat sie verlangt.«
»Ich verstehe.« Ich holte tief Luft und wischte mir mit dem Handschuh die Schweißperlen von der Stirn. Das hieß also, daß zwei potentielle Giftmörder ihr Unwesen trieben. Genau das, was mir noch gefehlt hatte!
»Nennen Sie mir ihre Namen?« fragte ich ihn unverblümt. »Das nächste Mal kaufen sie vielleicht bei jemandem, der kein Gewissen hat.«
Er nickte und preßte nachdenklich die Lippen zusammen.
»Es wäre möglich. Die Namen der Käufer werden Ihnen jedoch nichts nutzen. Es waren Dienstboten, die auf Anweisung ihrer
Herrschaft handelten. Einmal war es die Zofe der Vicomtesse de Rambeau und das andere Mal ein Mann, den ich nicht kannte.«
Ich trommelte mit den Fingern auf die Theke. Die einzige Person, die mich bedroht hatte, war der Comte de St. Germain. Hatte er einen Diener damit beauftragt, das vermeintliche Gift zu beschaffen, um es mir dann eigenhändig ins Getränk zu mischen? Als ich mir den Abend in Versailles wieder ins Gedächtnis rief, erschien es mir möglich. Die Weingläser wurden auf Tabletts von Dienern herumgereicht. Der Comte hätte mir nicht mal auf Armeslänge nahe kommen, sondern einfach nur einen Diener bestechen müssen, damit dieser mir ein bestimmtes Glas reichte.
Raymond betrachtete mich neugierig. »Haben Sie die Vicomtesse irgendwie verärgert? Sie ist ausgesprochen eifersüchtig. Es wäre nicht das erstemal, daß Sie mich um Hilfe bittet, eine Rivalin zu beseitigen, wenn ihre Eifersuchtsattacken gottlob auch recht kurzlebig sind. Der Vicomte riskiert gerne ein Auge, müssen Sie wissen - es gibt immer eine neue Rivalin, die sie von der alten ablenkt.«
Unaufgefordert setzte ich mich.
»Rambeau?« Ich versuchte, dem Namen ein Gesicht zuzuordnen, und sah plötzlich einen Mann mit eleganter Kleidung und einem hausbackenen runden Gesicht - beides verschwenderisch mit Schnupftabak bestreut - vor mir.
»Ja, Rambeau!« rief ich aus. »Natürlich kenne ich den Mann. Aber ich habe ihm nur den Fächer über das Gesicht gezogen, als er mir in die Zehen gebissen hat.«
»Je nach Laune könnte das für die Vicomtesse schon Anlaß genug sein«, erklärte Maitre Raymond. »Und wenn dem so war, dann sind Sie vor weiteren Angriffen wohl sicher.«
»Danke«, erwiderte ich trocken. »Und wenn es nicht die Vicomtesse war?«
Der kleine Apotheker zögerte eine Weile, während er mit zusammengekniffenen Augen in das Sonnenlicht blickte, das durch das Rautenglas des Fensters fiel. Dann wandte er sich entschlossen um und ging zu dem steinernen Tisch, auf dem seine Destillierkolben standen. Mit einer Kopfbewegung forderte er mich auf, ihm zu
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