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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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kaum sechs Monate her.
    »Gefallen Ihnen die Wölfe nicht, Madonna?« fragte Raymond. »Aber vor Bären und Füchsen haben Sie doch auch keine Angst. Und die sind ebenfalls Jäger und Fleischfresser.«
    »Schon, aber sie interessieren sich nicht für mein eigenes Fleisch«, erwiderte ich ironisch und reichte ihm den verwitterten Schädel. »Ich empfinde größere Zuneigung für unseren Freund, den Elch.« Liebevoll tätschelte ich die weit vorspringende Nase.
    »Zuneigung?« Die schwarzen Augen blickten mich neugierig an. »Ein ungewöhnliches Gefühl für einen Knochen, Madonna.«
    »Nun ja... das stimmt«, sagte ich leicht verlegen, »aber für mich sind es nicht bloß Knochen. Ich meine, sie sagen ja etwas über das Wesen des Tiers aus. Es sind nicht nur leblose Gegenstände.«
    Raymonds zahnloser Mund verzog sich zu einem Lächeln, als hätte ich etwas gesagt, was ihm gefiel. Er enthielt sich jedoch einer Antwort.
    »Warum haben Sie sie gesammelt?« fragte ich ihn. Mir war mit einem Mal aufgefallen, daß Regale voller Tierschädel nicht zur normalen Ausstattung eines Apothekers zählten. Ausgestopfte Krokodile vielleicht, aber nicht dieses ganze Zeug.
    Gutmütig zuckte er die Schultern.
    »Sie leisten mir bei meiner Arbeit Gesellschaft.« Er deutete auf eine unaufgeräumte Werkbank in der Ecke. »Sie können mir eine Menge erzählen, und das so leise, daß sie nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregen. Kommen Sie mit.« Unvermittelt wechselte er das Thema. »Ich habe etwas für Sie.«
    Neugierig folgte ich ihm zu einem hohen Schrank am Ende des Raumes.
    Raymond war kein Naturforscher, geschweige denn Wissenschaftler im modernen Sinn des Wortes. Er machte keine Notizen, fertigte keine Zeichnungen an und schrieb keine Bücher, die andere Menschen zu Rate ziehen und von denen sie lernen konnten. Dennoch hatte ich den Eindruck, daß ihm viel daran gelegen war, mich das zu lehren, worin er sich auskannte - seine Vorliebe für Gebeine zum Beispiel.
    Der Schrank war mit zahlreichen eigentümlichen Schnörkeln und Kringeln, Fünfecken und Kreisen bemalt. Kabbalistische Symbole.
Ein oder zwei kannte ich aus Onkel Lambs historischen Büchern.
    »Sie beschäftigen sich mit der Kabbala?« fragte ich ihn, während ich die Symbole amüsiert betrachtete. Das würde den geheimen Arbeitsraum erklären. Zwar herrschte in französischen Literatenzirkeln und in Adelskreisen ein starkes Interesse an Okkultismus, doch man sprach nur hinter vorgehaltener Hand darüber, weil man die kirchliche Säuberungswut fürchtete.
    Zu meiner Überraschung brach Raymond in Gelächter aus. Er legte die kurzen Finger auf die Schranktür und berührte hier die Mitte eines Symbols, dort das runde Ende.
    »Nein, eigentlich nicht. Die meisten Kabbalisten sind gewöhnlich recht arm, daher suche ich nicht unbedingt ihre Gesellschaft. Die Symbole auf dem Schrank sollen neugierige Leute abschrecken. Was natürlich, wenn man einmal darüber nachdenkt, eine erhebliche Macht für ein bißchen Malerei bedeutet. So haben die Kabbalisten vielleicht doch recht, wenn sie behaupten, in diesen Symbolen läge eine gewisse Kraft.«
    Mit einem verschmitzten Lächeln öffnete er die Schranktür. Es war tatsächlich ein Schrank mit doppeltem Boden. Wenn sich eine neugierige Person nicht von den Symbolen abschrecken ließ und die Tür öffnete, offenbarte sich ihr der harmlose Inhalt einer Apotheke. Würde es ihr jedoch gelingen, die versteckten Riegel in der richtigen Reihenfolge zu betätigen, würden auch die innenliegenden Regale aufschwingen und den dahinterliegenden Hohlraum offenbaren.
    Maître Raymond zog eine der kleinen Schubladen an der Hinterwand heraus und kippte den Inhalt in seine Hand. Nach kurzem Wühlen nahm er einen großen weißen Kristall und überreichte ihn mir.
    »Für Sie«, sagte er. »Zum Schutz.«
    »Was? Ein Zauber? fragte ich spöttisch, während ich den Stein in der Hand drehte und wendete.
    Raymond lachte und ließ kleine bunte Steine auf die fleckige Filzunterlage rieseln.
    »So könnte man es nennen, Madonna. Ich kann natürlich mehr dafür berechnen, wenn ich behaupte, sie besitzen magische Kräfte.« Mit einem Finger schnipste er einen blaßgrünen Kristall aus dem kleinen Häufchen Steine.
    »Darin wohnen nicht mehr - und gewiß auch nicht weniger -
magische Kräfte als in den Schädeln. Nennen Sie die Steine doch einfach die Knochen der Erde. In ihnen ist das Muster ihres Entstehens festgehalten, und welche Kraft dabei auch immer

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