Die Geliehene Zeit
gekommen.«
Schwer ließ ich mich auf die Stufen sinken. Der Schreck stand mir offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn der ältliche Diener spurtete die Stufen hoch.
»Madame.« Besorgt rieb er meine Hand. »Madame, ist alles in Ordnung?«
»Ich habe mich schon besser gefühlt, aber das ist jetzt unwichtig. Magnus, schicken Sie umgehend einen der Lakaien zu Prinz Charles’ Haus auf dem Montmartre. Er soll herausfinden, ob mein Mann dort ist.«
»Sofort, Madame. Und ich rufe auch Marguerite, damit sie sich um Sie kümmert.« Die Filzpantoffeln, die er während der morgendlichen Verrichtungen trug, glitten fast lautlos über das polierte Holz, als er die Treppe hinuntereilte.
»Und Murtagh!« rief ich ihm hinterher. »Der Verwandte meines Mannes. Bitte bringen Sie ihn zu mir.« Mein erster Gedanke war, daß Jamie die Nacht in Charles’ Haus verbracht hatte. Dann schoß mir durch den Kopf, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte.
»Wo ist er?« ertönte Murtaghs rauhe Stimme vom Treppenabsatz. Offenbar war er soeben erwacht. Sein Gesicht war von seiner Schlafunterlage ganz zerknittert, und in den Falten seines zerschlissenen Hemdes hing noch Stroh.
»Wie soll ich das wissen?« fauchte ich ihn an. Murtagh erweckte immer den Eindruck, als hegte er gegen jemanden einen Verdacht, und sein gewohnt mürrischer Gesichtsausdruck hatte sich dadurch, daß er aus dem Schlaf gerissen wurde, nicht gebessert. Trotzdem wirkte sein Anblick beruhigend. Wenn sich etwas Unangenehmes anbahnte, konnte man sich auf Murtagh voll und ganz verlassen.
»Er ist vergangene Nacht mit Prinz Charles ausgegangen und nicht heimgekommen. Mehr weiß ich nicht.« Ich zog mich am Geländer hoch und strich die Falten meines seidenen Nachthemdes glatt. Das Feuer war zwar bereits entfacht, hatte jedoch die Räume noch nicht erwärmt, und mir war kalt.
Murtagh fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um besser überlegen zu können.
»Mmmmpf. Ist schon jemand auf dem Weg zum Montmartre?«
»Ja,«
»Dann warte ich, bis eine Nachricht eintrifft. Falls man Jamie dort findet, gut und schön. Wenn nicht, kann uns vielleicht jemand sagen, wann und wo er und Seine Hoheit sich voneinander verabschiedet haben.«
»Und wenn alle beide nicht dort anzutreffen sind? Wenn auch der Prinz nicht nach Hause gekommen ist?« fragte ich. Es gab nicht nur Jakobiten in Paris, sondern auch Gegner der Stuarts. Und obwohl Charles Stuarts Ermordung keinerlei Gewähr dafür bot, daß damit die Gefahr einer möglichen schottischen Erhebung gebannt war - schließlich hatte er noch einen jüngeren Bruder -, mochte eine solche Tat doch James’ Enthusiasmus einen Dämpfer versetzen, falls er überhaupt jemals Enthusiasmus empfunden hatte, überlegte ich beunruhigt.
Ich erinnerte mich lebhaft an den Anschlag auf Jamie, dem er nur knapp entkommen konnte und bei dem er auf Fergus gestoßen war. Mordversuche auf offener Straße waren beileibe nichts Außergewöhnliches, und die Straßen von Paris wurden des Nachts von Räuberbanden unsicher gemacht.
»Du solltest dich lieber anziehen, Mädel«, bemerkte Murtagh. »Ich kann deine Gänsehaut ja sogar von hier sehen.«
»Ja, da hast du wohl recht.« Ich hatte meine Arme fest um meinen Körper geschlungen, aber es half alles nichts - meine Zähne klapperten vor Kälte.
»Madame, Sie werden sich noch erkälten!« Marguerite eilte die Treppe herauf und schob mich ins Schlafzimmer. Rasch warf ich noch einen Blick zurück auf Murtagh, der am Fuß der Treppe stand und sorgfältig seinen Dolch inspizierte, bevor er ihn zurück in die Scheide schob.
»Sie gehören ins Bett, Madame!« schimpfte Marguerite. »Es tut dem Kind und Ihnen nicht gut, wenn Sie so in der Kälte herumsitzen. Ich hole Ihnen eine Wärmepfanne. Und wo ist Ihr Morgenmantel? Ziehen Sie ihn über. Ja, so ist’s gut...« Ich hüllte mich in den schweren Wollmantel, ignorierte Marguerites mütterliche Ermahnungen, ging zum Fenster und öffnete die Läden.
Die Straße strahlte vom Widerschein der Morgensonne auf den Häuserfassaden. Obwohl es noch früh am Tag war, herrschte geschäftiges Treiben: Mägde und Lakaien schrubbten emsig die Stufen oder polierten Türgriffe aus Messing; Straßenhändler boten
lauthals Obst, Gemüse und frische Meeresfrüchte feil, und die Köche der großen Häuser streckten wie böse Geister die Köpfe aus den Kellertüren. Ein Kohlenkarren mit einem müden Zugpferd holperte die Straße entlang. Von Jamie indes keine Spur.
Schließlich
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