Die Geliehene Zeit
hatte. »Die kleine grüne Flasche. Einen Teelöffel.«
Er ignorierte den Löffel, setzte die Flasche an die Lippen und nahm ein paar herzhafte Schlucke. Dann setzte er sie wieder ab und beäugte die Flüssigkeit mißtrauisch.
»Mein Gott, schmeckt das ekelhaft! Bist du gleich fertig, Sassenach? Die Gäste können jeden Augenblick eintreffen.«
Mary hielten wir in einem Gästezimmer im ersten Stock verborgen. Ich hatte sie sorgfältig untersucht, aber sie hatte nur einige Schürfwunden davongetragen. Schlimmer war der Schock, gegen den ich ihr eine gerade noch vertretbare Dosis Mohnsaft verabreicht hatte.
Hartnäckig hatte sich Alex Randall allen Versuchen Jamies widersetzt, ihn heimzuschicken. Ausgestattet mit der strikten Anweisung, mich zu holen, wenn sie aufwachte, hielt er jetzt bei Mary Wache.
»Warum ist der Idiot ausgerechnet in diesem Augenblick dort aufgetaucht?« überlegte ich laut, während ich in einer Schublade nach der Puderdose kramte.
»Das habe ich ihn auch gefragt«, erwiderte Jamie. »Anscheinend ist der arme Narr in Mary Hawkins verliebt. Er folgt ihr kreuz und quer durch die Stadt und läßt den Kopf hängen wie eine verwelkte Blume, weil Mary den Vicomte de Marigny heiraten soll.«
Die Puderdose fiel mir aus der Hand.
» Er -er liebt sie ?« stieß ich hervor und wedelte mit der Hand, um die Puderwolke zu vertreiben.
»Das behauptet er, und ich sehe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln«, sagte Jamie, während er mir fürsorglich den Puder vom Kleid klopfte. »Er war ziemlich aufgewühlt, als er es mir erzählte.«
»Das kann ich mir denken.« Zu den widersprüchlichen Gefühlen, die mich beseelten, gesellte sich jetzt noch Mitleid mit Alex Randall. Natürlich hatte er sich Mary noch nicht erklärt - was war schon die Liebe eines verarmten Sekretärs im Vergleich zu dem Reichtum und Ansehen, das eine Verbindung mit dem Geschlecht derer von Gascogne brachte? Und wie mußte er sich jetzt fühlen,
nachdem man sie buchstäblich vor seiner Nase brutal angegriffen hatte?
»Warum hat er ihr denn keinen Antrag gemacht? Sie wäre auf der Stelle mit ihm durchgebrannt.« Denn der blasse englische Hilfsgeistliche war zweifelsfrei das »vergeistigte« Objekt von Marys stummer Anbetung.
»Randall ist ein Gentleman«, erklärte Jamie und reichte mir eine Feder und einen Tiegel mit Rouge.
»Du meinst, er ist ein Esel«, entgegnete ich ungnädig.
Jamies Lippen zuckten. »Na ja, vielleicht, und überdies ist er ein armer Esel; mit seinem Einkommen kann er keinen Hausstand gründen, wenn Mary von ihrer Familie verstoßen wird - was sicherlich geschehen würde, wenn sie mit Alex durchbrennt. Und er ist gesundheitlich angeschlagen; also würde er schwerlich eine andere Stellung finden, wenn ihn der Herzog ohne Zeugnis entläßt.«
»Bestimmt wird sie von einem der Dienstboten entdeckt.« Mit dieser schon einmal geäußerten Sorge wollte ich mich von den neuesten tragischen Enthüllungen ablenken.
»Nein, bestimmt nicht. Die haben genug zu tun. Und morgen früh hat sich Mary vielleicht so weit erholt, daß sie ins Haus ihres Onkels zurückkehren kann. Ich habe ihn davon benachrichtigt«, fügte Jamie hinzu, »daß sie im Haus einer Freundin übernachtet, weil es spät geworden ist. Ich wollte vermeiden, daß man nach ihr sucht.«
»Ja, aber...«
»Sassenach.« Er legte mir beschwichtigend die Hände auf die Schultern und fing meinen Blick im Spiegel auf. »Niemand darf sie zu Gesicht bekommen, bevor sie sich wieder ganz normal benimmt. Wenn bekannt wird, was man ihr angetan hat, ist ihr Ruf ruiniert.«
»Ihr Ruf! Es ist doch nicht ihre Schuld, daß sie vergewaltigt wurde!« Meine Stimme zitterte, und der Griff um meine Schultern wurde fester.
»Es ist nicht recht, Sassenach, aber so ist es nun mal. Wenn bekannt wird, daß sie keine Jungfrau mehr ist, bekommt sie keinen Mann mehr - sie wäre entehrt und müßte bis ans Ende ihrer Tage ledig bleiben.« Er drückte meine Schulter, ließ mich schließlich los und half mir, eine Haarnadel in meine gefährlich hochgetürmte Frisur zu stecken.
»Mehr können wir für sie nicht tun, Claire«, sagte er. »Sie vor
Schaden bewahren, sie heilen, so gut es geht - und den dreckigen Bastard finden, der es getan hat.« Er wandte sich ab und suchte in meinem Schmuckkästchen nach seiner Krawattennadel. »Bei Gott«, fügte er über das Kästchen gebeugt hinzu, »glaubst du, ich weiß nicht, was es für sie bedeutet? Oder für ihn?«
Ich legte meine Hand
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