Die Geliehene Zeit
sich interessiert vorlehnte. »Charles Stuart hat sich an zwei Bankiers gewandt, die ich kenne, aber keiner will ihm unter den gegebenen Umständen eine bedeutende Summe vorstrecken.«
Rasch warf ich Jamie einen Blick zu, der mit einem fast unmerklichen Nicken antwortete. Das waren gute Nachrichten. Aber was hatte es mit der Geschichte des Comte auf sich?
»Es ist aber die Wahrheit«, sagte dieser kämpferisch. »Seine Hoheit hat von einer italienischen Bank ein Darlehen von fünfzehntausend Livres erhalten und mir die gesamte Summe überlassen, um ein Schiff anzuheuern und die Flaschenfüllung des Jahrgangs zu bezahlen. Ich habe den unterzeichneten Brief hier.« Er klopfte sich zufrieden auf die Brust, warf einen triumphierenden Blick in die Runde und verweilte schließlich bei Jamie.
»Mein Herr«, sagte er und wies auf die Karaffe, die vor Jamie auf dem weißen Tischtuch stand, »werden Sie uns nun von diesem berühmten Wein kosten lassen?«
»Selbstverständlich«, murmelte Jamie. Mechanisch griff er nach dem ersten Glas.
Louise, die den ganzen Abend still vor sich hin gegessen hatte, bemerkte Jamies Unbehagen. Daher beschloß sie, mir freundschaftlich beizuspringen und das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu lenken.
»Welch schönen Stein du da am Hals trägst, ma chère «, sagte sie und deutete auf meinen Kristall. »Woher stammt er?«
»Oh, dieser?« sagte ich. »Also, eigentlich...«
Ein gellender Schrei schnitt mir das Wort ab. Er brachte das Gespräch zum Erliegen und ließ den Kristallkronleuchter erzittern.
» Mon Dieu .« Der Comte de St. Germain brach das Schweigen. »Was...
Es folgte ein weiterer Schrei, dann noch einer. Offensichtlich kam der Lärm aus dem Treppenhaus.
Die Gäste erhoben sich von der Tafel wie eine aufgeregte Horde Gänse und strömten in die Halle, wo sich Mary Hawkins in ihrem zerfetzten Hemd auf dem Treppenabsatz zeigte. Da stand sie, wie zum die größtmögliche Wirkung bemüht, mit weit aufgerissenem Mund, die Arme vor der Brust verschränkt, wo die Risse im Stoff nur allzu deutlich die blauen Flecken offenbarten, die grapschende Hände an Marys Brüsten und Armen hinterlassen hatten.
Ihre Pupillen erschienen im Licht des Kandelabers winzig klein, und aus ihren Augen sprach namenlose Angst. Sie schaute hinab, nahm aber offensichtlich weder die Treppe noch die fassungslosen Zuschauer wahr.
»Nein«, kreischte sie. »Nein! Lassen Sie mich! Bitte, ich flehe Sie an! FASSEN SIE MICH NICHT AN!« Von der Droge umnebelt, wie sie war, spürte sie dennoch eine Bewegung hinter sich, denn sie drehte sich um und schlug wild um sich. Das Opfer ihrer Attacke war Alex Randall, der sich vergeblich bemühte, sie festzuhalten und zu beruhigen.
Unglücklicherweise sahen seine Anstrengungen aus unserer Perspektive eher aus wie die eines zurückgewiesenen Verführers, der nicht lockerlassen will.
» Nom de Dieu «, entfuhr es General d’Arbanville. » Racaille! Lassen Sie sie sofort Los! Der alte Soldat hechtete mit einer für sein Alter erstaunlichen Behendigkeit zur Treppe, während er instinktiv nach seinem Schwert griff - das er glücklicherweise an der Tür abgelegt hatte.
Hastig warf ich mich und meine voluminösen Röcke vor den Comte und Duverney den Jüngeren, die Anstalten machten, den General bei der Rettung zu unterstützen, aber Marys Onkel, Silas Hawkins, konnte ich nicht aufhalten. Mit hervorquellenden Augen und starr vor Schreck stand der Weinhändler einen Moment da, dann senkte er den Kopf und bahnte sich wie ein wütender Stier seinen Weg durch die Zuschauer.
Angstvoll hielt ich nach Jamie Ausschau, den ich am Rand der Menge entdeckte. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu; in dem Stimmengewirr, durchsetzt von Marys schrillen Schreien, hätte er meine Zurufe ohnehin nicht gehört.
Jamie zuckte die Achseln, dann schaute er sich um. Sein Blick fiel auf einen dreibeinigen Tisch an der Wand, auf dem eine Vase mit Chrysanthemen stand. Er blickte auf, schätzte die Entfernung ab,
schloß kurz die Augen, als empfähle er seine Seele Gott, dann schritt er zur Tat.
Er sprang auf den Tisch, griff nach dem Geländer, schwang sich darüber und erreichte den Treppenabsatz knapp vor dem General. Diesen akrobatischen Akt quittierten ein oder zwei Damen mit gedämpften Schreien der Bewunderung, in die sich Ausrufe des Entsetzens mischten.
Die Rufe wurden lauter, als Jamie die verbleibenden Stufen nahm, sich gewaltsam zwischen Mary und Alex drängte, letzteren an den
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