Die Geliehene Zeit
hören.
»Glauben Sie, sie weiß schon Bescheid?«
Diese Frage - in einem Ton, der den pikantesten Klatsch versprach - drang an mein Ohr, als ich den Salon gerade betreten wollte.
Es war die Stimme von Marie d’ Arbanville. Aufgrund der Stellung ihres erheblich älteren Mannes war sie in allen Häusern gern gesehen. Selbst für französische Verhältnisse nahm sie überaus regen Anteil am gesellschaftlichen Leben und war über jeden Skandal im Raum von Paris informiert.
»Worüber soll sie Bescheid wissen?«
Die hohe, getragene Stimme von Louise vermittelte das unerschütterliche Selbstbewußtsein der geborenen Aristokratin, die es wenig kümmert, wer worüber Bescheid weiß.
»Oh, Sie haben es auch noch nicht gehört!« Marie stürzte sich begeistert auf dieses Eingeständnis. »Meine Güte, natürlich, ich habe es ja selbst erst vor einer Stunde erfahren.«
Und läuft hierher, um es mir brühwarm zu erzählen, dachte ich. Was immer »es« sein mochte, ich hielt es für besser, in der Halle zu bleiben und die unbeschönigte Version zu hören.
»Es geht um den Herrn von Broch Tuarach«, erklärte Marie. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich vorbeugte, wie ihre grünen Augen hin und her huschten und vor Eifer funkelten. »Heute morgen hat er einen Engländer zum Duell gefordert - wegen einer Hure!«
»Was?« Louises erstaunter Ausruf übertönte mein Keuchen. Ich klammerte mich an dem Tischchen fest, neben dem ich stand, und vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken.
»O ja!« rief Marie. »Jacques Vincennes war dabei. Er hat meinem Mann alles erzählt! Es war in diesem Bordell unten am Fischmarkt - stellen Sie sich vor, zu so früher Stunde ein Bordell aufzusuchen! Männer sind wirklich seltsam. Auf jeden Fall hat Jacques mit Madame Elise, der Inhaberin des Etablissements, etwas getrunken, als plötzlich ein entsetzlicher Schrei aus dem oberen Stockwerk drang, und dann gab es ein Gepolter und einen heftigen Wortwechsel.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen - und die dramatische Wirkung zu steigern. Ich hörte, wie ein Getränk eingeschenkt wurde.
»Jacques rannte natürlich zur Treppe - zumindest behauptet er das. Ich vermute, daß er sich in Wirklichkeit hinter dem Sofa versteckt hat, er ist ein schrecklicher Feigling - und nach weiterem Lärmen und Schreien tat es einen großen Schlag, und ein englischer Offizier polterte die Treppe hinunter, nur halb bekleidet, ohne Perücke - er torkelte gegen die Wand. Und wer erscheint oben an der Treppe wie der Rachegott persönlich, niemand anders als unser petit James!«
»Nein! Und ich hätte geschworen, daß er der letzte wäre... aber fahren Sie fort! Was geschah dann?«
Eine Teetasse wurde behutsam auf dem Unterteller abgesetzt, dann erklang wieder die Stimme Maries, die vor Aufregung jede Mäßigung vergaß.
»Als der Engländer wie durch ein Wunder heil unten ankam, drehte er sich um und blickte zu dem Herrn von Tuarach hinauf. Jacques sagt, für einen Mann, der gerade mit offenem Hosenlatz die Treppe hinuntergestoßen worden ist, habe er große Selbstbeherrschung bewiesen. Er lächelte - nicht freundlich, wissen Sie, eher gehässig - und sagte: ›Gewalt wäre nicht nötig gewesen, Fraser. Sie hätten doch gewiß warten können, bis Sie dran sind? Ich möchte meinen, daß Sie zu Hause gut bedient werden. Aber manchen Leuten macht es mehr Spaß, wenn sie dafür bezahlen.‹«
Entrüstet rief Louise: »Wie schrecklich! Die canaille! Aber natürlich kann den Herrn von Tuarach eine solche Beleidigung nicht treffen...« Ich merkte an ihrer Stimme, wie Freundschaft und Klatschsucht miteinander rangen. Es überraschte mich nicht, daß die Klatschsucht siegte.
»Der Herr von Broch Tuarach kann die Gunst seiner Frau zur Zeit nicht genießen. Sie ist in anderen Umständen, und die Schwangerschaft ist gefährdet. Daher befriedigt er seine Bedürfnisse in einem Bordell, wie es sich für einen Ehrenmann geziemt. Aber fahren Sie fort, Marie! Was geschah dann?«
»Nun gut.« Marie schöpfte Atem, als sie sich dem Höhepunkt ihrer Geschichte näherte. »Der Herr von Tuarach rannte die Treppe hinunter, packte den Engländer am Hals und schüttelte ihn wie eine Ratte!«
»Non! Ce n’est pas vrai!«
»Aber ja! Drei Diener von Madame Elise waren nötig, um ihn zu bändigen - ein wunderbar starker Mann, nicht wahr? So wild und ungestüm!«
»Ja, und weiter?«
»Ach ja, Jacques sagt, der Engländer habe nach Luft gerungen. Dann richtete er sich auf und sagte
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