Die Geliehene Zeit
linken Brustwarze hatte er eine kleine, weiße Narbe - da hatte er sich das Brandmal von Jonathan Randalls Siegelring aus der Haut geschnitten. Die maßlose Wut, die ihn dazu getrieben hatte, sich lieber selbst zu verletzen, als diese Demütigung zu tragen, konnte leicht wieder hervorbrechen, um seinen Peiniger - und dessen unselige Nachkommen - zu vernichten.
»Frank«, flüsterte ich, und meine linke Hand umschloß unwillkürlich den goldenen Ehering. »O mein Gott, Frank.« Für Jamie war Frank nicht mehr als ein Geist, die verschwommene Möglichkeit einer Zuflucht für mich. Für mich war Frank der Mann, mit dem ich gelebt und mein Bett geteilt - und den ich schließlich verlassen hatte, um bei Jamie Fraser zu bleiben.
»Ich kann nicht«, flüsterte ich in die Leere, die mich umgab. »Ich kann es nicht zulassen.«
Das Licht des Nachmittags wich den grauen Schatten der Dämmerung. Es herrschte eine beklemmende Weltuntergangsstimmung. Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein toter Mann . Jamie heute nacht zu suchen war ein aussichtsloses Unterfangen. Ich wußte, daß er nicht in die Rue Tremoulins zurückkehren würde, sonst hätte er mir keine Nachricht hinterlassen. Er würde es nicht fertigbringen, die ganze Nacht neben mir zu liegen - im Bewußtsein dessen, was er am Morgen vorhatte. Zweifellos war er in einer Taverne eingekehrt, um sich dort ungestört auf den Akt der Gerechtigkeit vorzubereiten, den zu vollbringen er sich geschworen hatte.
Ich glaubte zu wissen, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Da er sich nur allzugut an sein erstes Duell erinnerte, hatte sich Jamie die Haare kurzgeschoren. Und natürlich würde ihm auch wieder einfallen, welcher Ort sich für die Austragung eines illegalen Duells anbot. Der Bois de Boulogne, unweit des Pfades der Sieben Heiligen. Die Bäume des Wäldchens standen so dicht, daß die Kämpfenden nicht fürchten mußten, entdeckt zu werden. Auf einer schattigen Lichtung würden sich morgen früh James Fraser und Jack Randall gegenüberstehen. Und ich würde dabeisein.
Ich lag auf dem Bett, ohne mich auszuziehen oder zuzudecken. Die Dämmerung ging über in schwarze Nacht, und ich wußte, daß
ich keinen Schlaf finden würde. Das einzige, was mich tröstete, waren die Bewegungen meines Kindes, während mir das Echo von Jamies Worten in den Ohren klang: Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein toter Mann.
Der Bois de Boulogne war ein kleines Gehölz, fast noch ein Urwald, der wie ein Fremdkörper am Rande von Paris lag. Es hieß, in den Tiefen des Waldes gebe es nicht nur Füchse und Dachse, sondern auch Wölfe, aber dadurch ließen sich die Liebespaare nicht abschrecken, die im Schutz der Bäume schäkerten. Der Wald bot Zuflucht vom Lärm und Schmutz der Stadt, und nur seine Lage verhinderte, daß sich der Adel dort tummelte. Er wurde vor allem von den Anwohnern genutzt, die im Schatten der mächtigen Eichen und der hellen Birken Erholung suchten - und von all jenen, die ungestört sein wollten.
Der Wald war klein, aber doch zu groß, um ihn auf der Suche nach einer Lichtung, die sich für ein Duell eignete, zu Fuß zu durchstreifen. Während der Nacht hatte es zu regnen begonnen, und das Licht der Dämmerung wurde durch Wolken gedämpft. Der Wald schien zu wispern, das leise Trommeln des Regens auf den Blättern verschmolz mit dem gedämpften Rascheln der belaubten Zweige.
Die Kutsche hielt auf dem Weg, der durch den Wald führte, bei einer Ansammlung baufälliger Häuser. Ich hatte dem Kutscher genaue Anweisungen gegeben; er schwang sich von seinem Sitz, band die Pferde fest und verschwand in einem der Häuser. Die Leute, die am Waldrand wohnten, wußten, was dort vor sich ging. Es konnte nicht allzu viele Plätze geben, die sich für ein Duell eigneten, und diese waren ihnen sicherlich bekannt.
Ich lehnte mich zurück und zog den schweren Umhang enger um mich. Die Erschöpfung einer schlaflosen Nacht zehrte an mir, und die Furcht lag mir bleischwer im Magen. Und da war auch der schwelende Zorn, den ich beiseite schob, damit er mir bei meiner Aufgabe nicht in die Quere kam.
Doch die Wut stieg immer wieder auf, wenn ich nicht auf der Hut war. Wie konnte er das tun? Ich sollte nicht hier sein, ich sollte zu Hause im Bett neben Jamie liegen, ruhig und geborgen. Ich verstand, daß er aufgebracht war. Aber es stand ein Menschenleben auf dem Spiel, um Himmels willen. Wie konnte er seinen verdammten
Stolz wichtiger nehmen als das? Und einfach verschwinden, ohne ein Wort
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