Die Geliehene Zeit
Murtagh sein?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist vom Aufseher des Lagerhauses.«
»Gibt’s Ärger an den Docks?«
Auf Jamies Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle - Empörung und Belustigung.
»Das nicht gerade. Der Mann ist in Schwierigkeiten geraten, und zwar in einem Bordell. Er bittet demütig um Vergebung, hofft aber, daß ich es für angebracht halte, vorbeizukommen und ihm aus der Klemme zu helfen. Mit anderen Worten«, fuhr er fort, während er aufstand und seine Serviette zerknüllte, »er fragt an, ob ich seine Rechnung bezahle.«
»Hast du das vor?« fragte ich amüsiert.
Mit einem verächtlichen Schnauben fegte er die Krümel von seinem Schoß.
»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, wenn ich das Lagerhaus nicht selbst beaufsichtigen will - und dafür habe ich keine Zeit.« In Gedanken ging er die Arbeiten durch, die an diesem Tag erledigt werden mußten. Die vorliegende Sache würde ihn nicht wenig Zeit kosten, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bestellungen, an den Docks warteten die Kapitäne und im Lagerhaus die Fässer.
»Ich nehme Fergus mit für die Botengänge«, sagte er resigniert. »Vielleicht kann er einen Brief zum Montmartre bringen, wenn ich keine Zeit dafür finde.«
»Ein gutes Herz zählt mehr als eine Adelskrone«, tröstete ich Jamie, der am Schreibtisch stand und wehmütig in den Papieren blätterte, die sich dort stapelten.
»Ach ja? Und wer vertritt diese Meinung?«
»Alfred, Lord Tennyson, glaube ich. Ein Dichter. Ich glaube nicht, daß er schon auf der Welt ist. Onkel Lamb hatte ein Buch mit den Werken berühmter englischer Dichter. Soweit ich mich erinnere, war auch was von Burns darunter - er ist Schotte«, erklärte ich. »Er sagt: ›Freiheit und Whiskey gehören zusammen.‹«
Jamie lachte. »Ob er ein Dichter ist, kann ich nicht beurteilen, aber ein Schotte ist er bestimmt.« Lächelnd beugte er sich zu mir herunter und küßte mich auf die Stirn. »Zum Abendessen bin ich wieder da, mo duinne . Gehab dich wohl.«
Ich verzehrte mein Frühstück und putzte auch noch Jamies Toast weg, dann zog ich mich zurück, um mein Morgennickerchen zu halten. Noch ein-, zweimal hatte ich leicht geblutet, doch seit einigen Wochen war alles gut. Dennoch legte ich mich, sooft es ging, ins Bett oder auf die Chaiselongue und ging nur hinunter, um im Salon Besucher zu empfangen oder um mit Jamie im Speisezimmer zu essen. Doch als ich mittags hinunterkam, stand nur ein Gedeck auf dem Tisch.
»Ist der Herr noch nicht heimgekommen?« fragte ich überrascht. Der ältliche Butler schüttelte den Kopf.
»Nein, Madame.«
»Nun, ich bin sicher, daß er bald kommt. Sorgen Sie dafür, daß das Essen für ihn bereitsteht.« Ich war jedoch zu hungrig, um auf Jamie zu warten.
Nach dem Essen legte ich mich wieder hin. Gegenwärtig wurde in unserem Ehebett nur gelesen und geschlafen und beides tat ich ausgiebig. Auf dem Bauch zu liegen war unmöglich und die Rükkenlage unbequem, weil das Baby unruhig wurde. Folglich legte ich mich auf die Seite und rollte mich um meinen rundlichen Unterleib wie eine Cocktailkrabbe um eine Kaper. Ich schlief selten tief, meist döste ich und ließ mich in Phantasien treiben, die sich um die sanften Bewegungen des Kindes rankten.
In meinen Träumen fühlte ich Jamies Nähe, aber als ich die Augen öffnete, war niemand im Raum, also schloß ich sie wieder und fühlte mich eingelullt, als schwömme auch ich schwerelos in einem warmen See.
Irgendwann am Spätnachmittag wurde ich durch ein leises Klopfen an der Schlafzimmertür geweckt.
»Entrez« , sagte ich, während ich blinzelnd aufwachte. Es war der Butler Magnus, der entschuldigend Besucher meldete.
»Es ist die Princesse de Rohan, Madame. Die Prinzessin wünschte zu warten, bis Sie erwacht sind, aber als auch Madame d’Arbanville eintraf, dachte ich, vielleicht...«
»Schon gut Magnus.« Mühsam richtete ich mich auf und ließ die Füße über den Rand des Bettes gleiten. »Ich komme.«
Über den Besuch freute ich mich. Seit einem Monat gaben wir keine Gesellschaften mehr, und ich vermißte das geschäftige Treiben und die Gespräche, so albern sie manchmal waren. Louise besuchte mich oft, um mich mit Neuigkeiten vom Hof zu versorgen,
aber Marie d’Arbanville hatte ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Ich fragte mich, was sie herführte.
Behäbig stieg ich die Treppe hinunter. Obwohl die Tür zum Salon geschlossen war, konnte ich die Stimmen deutlich
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