Die Geliehene Zeit
zum Herrn von Tuarach: ›Schon zweimal hätten Sie mich beinah umgebracht, Fraser. Vielleicht gelingt es Ihnen eines Tages.< Und der Herr von Tuarach fluchte in dieser schrecklichen schottischen Sprache - ich verstehe kein Wort, Sie etwa? -, befreite sich aus dem Griff der Männer, die ihn hielten, schlug den Engländer mit der Hand ins Gesicht und sagte: ›Morgen bei Tagesanbruch sind Sie ein toter Mann!< Damit drehte er sich um, eilte wieder die Treppe hinauf, und der Engländer ging. Jacques meint, er sei kreidebleich gewesen - kein Wunder! Stellen Sie sich vor!«
Auch ich stellte es mir vor.
»Geht es Ihnen gut, Madame?« Magnus’ besorgte Stimme übertönte Louises Ausrufe des Erstaunens. Hilfesuchend streckte ich die Hand aus. Er nahm sie sofort und stützte mit der anderen Hand meinen Ellbogen.
»Nein. Es geht mir nicht gut. Bitte... sagen Sie es den Damen?« Kraftlos deutete ich auf den Salon.
»Selbstverständlich, Madame. Sogleich, aber zuerst bringe ich Sie auf Ihr Zimmer. Hier entlang, chére Madame... « Er führte mich die Treppe hinauf, wobei er tröstende Worte murmelte, und geleitete mich zur Chaiselongue im Schlafzimmer. Dann ließ er mich allein, versprach aber, sofort ein Mädchen heraufzuschicken.
Ich wartete jedoch nicht ab, bis Hilfe kam. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, fand ich die Kraft aufzustehen. Ich tastete mich zur Kommode, auf der mein kleiner Medizinkasten stand. Zwar rechnete ich nicht damit, jetzt noch ohnmächtig zu werden, aber ich besaß ein Fläschchen mit Riechsalz, das ich für den Notfall zur Hand haben wollte.
Doch als ich den Deckel öffnete, erstarrte ich. Einen Augenblick lang weigerte sich mein Verstand zu registrieren, was meine Augen sahen: das zusammengefaltete Blatt Papier, das sorgfältig zwischen die Fläschchen geklemmt war. Meine Finger zitterten, als ich es herausholte.
Es tut mir leid. Kühn und schwarz standen die Worte mitten auf dem Papier. Der Buchstabe J war ebenso sorgfältig daruntergesetzt. Aber darunter waren hastig noch zwei Worte hingekritzelt worden, ein verzweifeltes Postskriptum: Ich muß!
»Du mußt«, flüsterte ich vor mich hin, dann gaben meine Knie nach. Als ich auf dem Boden lag, sah ich die Holztäfelung der Decke über mir flimmern. Da fiel mir ein, daß ich bisher immer angenommen hatte, die Neigung der Damen des achtzehnten Jahrhunderts, in Ohnmacht zu fallen, sei auf zu eng geschnürte Mieder zurückzuführen. Jetzt glaubte ich eher, daß der Schwachsinn der Männer des achtzehnten Jahrhunderts dafür verantwortlich war.
In nächster Nähe vernahm ich einen Schrei des Entsetzens, dann hoben mich hilfreiche Hände auf; unter mir spürte ich eine tröstlich weiche Matratze und auf der Stirn und den Handgelenken kühle, nach Essig riechende Tücher.
Bald war ich wieder Herrin meiner Sinne, verspürte aber keine Lust zu sprechen. Also versicherte ich den Mädchen, es gehe mir gut, scheuchte sie aus dem Zimmer und lehnte mich in die Kissen zurück, um nachzudenken.
Natürlich war es Jack Randall, und Jamie hatte sich aufgemacht, ihn zu töten. Das war der einzige klare Gedanke, den ich in diesem Sumpf aus Entsetzen und wirren Vermutungen fassen konnte. Warum aber? Was konnte ihn bewegen, das Versprechen zu brechen, das er mir gegeben hatte?
Ich versuchte, mir einen Reim auf die Ereignisse zu machen, von denen Marie - wenn auch aus dritter Hand - berichtet hatte. Dahinter steckte mehr als nur der Schreck über eine unerwartete Begegnung. Ich kannte den Hauptmann, und zwar wesentlich besser, als mir angenehm war. Daher konnte ich mir ziemlich sicher sein, daß er die üblichen Dienstleistungen eines Bordells nicht in Anspruch nehmen würde. Sich mit einer Frau zu vergnügen entsprach nicht seinem Naturell. Was er genoß - was er brauchte -, waren Angst, Schmerz und Demütigung.
Diese Handelswaren waren natürlich ebenfalls käuflich, wenn auch zu einem etwas höheren Preis. Bei meiner Arbeit im Höpital des Anges hatte ich genug gesehen, um zu wissen, daß es Putains gab, deren wichtigstes Kapital nicht zwischen ihren Beinen lag, sondern in ihren starken Knochen und ihrer teuren, verletzlichen Haut, die leicht blaue Flecken bekam, bestand.
Und wenn Jamie, dessen eigene Haut von Randalls Liebesbezeugungen vernarbt war, auf den Hauptmann gestoßen war, während dieser sich mit einer Dame des Etablissements auf solche Weise vergnügte, dann hätte ihn das alle Versprechungen vergessen lassen können. Unter der
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