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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Gesicht, meinen Hals und meine Schultern. Jeder Tropfen prallte kalt auf, dann wurde er zu einem winzigen, warmen Strom, der über meine ausgekühlte Haut rann.
Diese Wahrnehmung war überdeutlich und losgelöst von dem quälenden, wellenartigen Schmerz in meinem Unterleib. Ich zwang mich, meine Gedanken darauf zu konzentrieren und die leise, nüchterne Stimme in meinem Innern zu überhören, die Stimme, die klang, als diktiere sie Stichpunkte für ein Krankenblatt: »Du hast eine Blutung. Nach der Blutmenge zu urteilen, ist die Plazenta gerissen. In der Regel tödlich. Der Blutverlust erklärt das taube Gefühl in Händen und Füßen und die beeinträchtigte Sehkraft. Es heißt, das Gehör ist die letzte Sinneswahrnehmung, die schwindet. Anscheinend stimmt das.«
    Ob es mir nun als letzte Sinneswahrnehmung geblieben war oder nicht, hören konnte ich noch. Genauer gesagt, ich hörte Stimmen, die meisten aufgeregt, manche um Ruhe bemüht, alle Französisch sprechend. Ein Wort konnte ich hören und verstehen - meinen Namen, der wie aus weiter Ferne immer wieder gerufen wurde. »Claire! Claire!«
    »Jamie«, wollte ich sagen, aber meine Lippen waren steif und gefühllos vor Kälte. Rühren konnte ich mich nicht. Das Durcheinander um mich herum beruhigte sich allmählich; Leute trafen ein, die wenigstens bereit waren zu handeln, als wüßten sie, was zu tun war.
    Vielleicht wußten sie es wirklich. Die durchtränkte Masse meines Rockes wurde sanft von mir genommen und statt dessen ein dickes Stoffbündel zwischen meine Beine geschoben. Hilfreiche Hände drehten mich auf die linke Seite und zogen meine Knie an die Brust hoch.
    »Bringt sie ins Spital«, schlug jemand vor.
    »So lange lebt sie nicht mehr«, meinte pessimistisch ein anderer. »Wir können ebensogut noch ein paar Minuten warten und dann gleich den Leichenkarren bestellen.«
    »Nein«, beharrte ein dritter. »Die Blutung läßt nach. Vielleicht überlebt sie. Außerdem kenne ich sie, ich habe sie im Hôpital des Anges gesehen. Bringt sie zu Mutter Hildegarde.«
    Ich nahm alle Kraft zusammen, die mir geblieben war, und flüsterte: »Mutter.« Dann gab ich den Kampf auf und überließ mich der Dunkelheit!

25
    Raymond, der Ketzer
    Das hohe gotische Gewölbe über mir wurde von Kreuzrippen getragen, die sich, von vier Pfeilern ausgehend, am höchsten Punkt trafen und Spitzbögen bildeten - typisch für die Architektur des vierzehnten Jahrhunderts.
    Mein Bett, das von schützenden Gazevorhängen umgeben war, stand unter einem solchen Gewölbe. Der Mittelpunkt der Kreuzrippen lag jedoch nicht direkt über mir; mein Bett war ein wenig vom Zentrum abgerückt. Das beunruhigte mich jedesmal, wenn ich aufblickte. Ich wünschte, ich könnte mein Bett durch bloße Willenskraft verschieben, als würde mir die Lage unter dem Mittelpunkt des Gewölbes helfen, meine eigene Mitte zu finden.
    Wenn ich überhaupt noch eine Mitte besaß. Ich fühlte mich verletzt und zerbrechlich, als wäre ich geschlagen worden. Meine Gelenke schmerzten, sie schienen sich gelockert zu haben wie die Zähne eines Skorbutkranken. Mehrere dicke Decken lagen auf mir; da jedoch kein bißchen Wärme von mir ausging, konnten sie auch keine Wärme einfangen. Die Kälte jenes regnerischen Morgens steckte mir in den Knochen.
    All diese körperlichen Symptome registrierte ich objektiv, als gehörten sie zu jemand anderem. Daneben empfand ich nichts. Das alte, logische Schaltzentrum in meinem Gehirn existierte noch, aber ohne die Hülle der Gefühle, durch die seine Äußerungen sonst gefiltert wurden - sie waren tot oder gelähmt oder einfach nicht mehr da. Ich wußte es nicht, und es war mir auch gleich. Seit fünf Tagen lag ich im Höpital des Anges.
    Mutter Hildegardes lange Finger glitten mitfühlend sanft unter das Nachthemd, das ich trug, drangen tastend in die Tiefen meines Schoßes, suchten die harten Ränder einer sich zurückbildenden Gebärmutter. Doch das Fleisch war weich wie eine reife Frucht und
gab unter ihren Fingern nach. Ich zuckte zusammen, als sie tief eindrangen, und die Oberin runzelte die Stirn und flüsterte etwas, vielleicht ein Gebet.
    Aus dem Gemurmel hörte ich einen Namen heraus und fragte: »Raymond? Sie kennen Maitre Raymond?« Ein ungleicheres Paar als diese respekteinflößende Nonne und den Gnom aus dem Schädelkabinett konnte ich mir kaum vorstellen.
    Erstaunt zog Mutter Hildegarde ihre dichten Brauen hoch.
    »Maître Raymond, sagen Sie? Diesen gottlosen Scharlatan? Que

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