Die Geliehene Zeit
hatten die Dienstboten gezögert und konferiert, aber schließlich hatte Magnus beschlossen, daß mir der Brief zugeleitet werden mußte.
»Da der Herr fort ist«, wiederholte er. Diesmal erregte der Satz meine Aufmerksamkeit.
»Fort?« sagte ich. Der Brief war zerknittert und befleckt nach seiner langen Reise. »Sie meinen, Jamie ist abgereist, bevor dieser Brief eintraf?« Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es mußte sich um das Schreiben handeln, in dem Murtagh den Namen und den Abreisetag des Schiffes nannte, das Charles Stuarts Portwein von Lissabon nach Paris transportierte. Jamie konnte nicht nach Spanien gereist sein, bevor er diese Information erhalten hatte.
Um mir Klarheit zu verschaffen, erbrach ich das Siegel und faltete das Briefchen auseinander. Es war an mich adressiert, da Jamie glaubte, es sei unwahrscheinlich, daß meine Post abgefangen wurde. Das Schreiben war vor fast einem Monat in Lissabon datiert worden.
»Die Scalamandre sticht am 18. Juli von Lissabon aus in See.« Das war alles. Verwundert stellte ich fest, wie zierlich und sauber Murtaghs Handschrift war; aus irgendeinem Grund hatte ich ein unleserliches Gekritzel erwartet.
Als ich aufblickte, sah ich, wie Magnus und Louise einen überaus merkwürdigen Blick tauschten.
»Was ist los?« fragte ich abrupt. »Wo ist Jamie?« Daß er mich im Höpital des Anges nicht besucht hatte, hatte ich auf Schuldgefühle zurückgeführt, denn schließlich hatte sein rücksichtsloses Verhalten unserem Kind, Frank und beinahe auch mir das Leben gekostet. Damals war es mir gleichgültig gewesen. Ich hatte ihn gar nicht sehen wollen. Doch nun kam mir eine unheilvollere Erklärung für sein Fernbleiben in den Sinn.
Schließlich straffte Louise ihre rundlichen Schultern und ergriff das Wort.
»Er ist in der Bastille«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. »Wegen des Duells.«
Meine Knie wurden weich, und ich ließ mich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen.
»Warum in aller Welt hast du mir das nicht gesagt?« Ich war
mir über meine Gefühle nicht ganz im klaren. Stand ich unter Schock, empfand ich Entsetzen - Angst? Oder ein klein wenig Genugtuung?
»Ich - ich wollte dich nicht beunruhigen, chérie«, stotterte Louise, bestürzt über meine Verzweiflung. »Du warst so schwach... und du hättest ohnehin nichts unternehmen können. Und du hast nicht gefragt«, betonte sie.
»Aber was... wie... wie lautet das Urteil?« fragte ich. Ganz gleich, was ich zuerst empfunden hatte, es schien mir jetzt dringend geboten, etwas zu unternehmen. Murtaghs Brief war vor zwei Wochen in der Rue Tremoulins eingetroffen. Jamie hätte gleich nach Empfang abreisen sollen.
Louise rief Dienstboten herbei, bestellte Wein, Riechsalz und verbrannte Federn, alles auf einmal. Ich mußte einen besorgniserregenden Anblick geboten haben.
»Er hat den Befehl des Königs mißachtet«, sagte sie. »Er bleibt so lange im Gefängnis, wie es dem König beliebt.«
»Jesus H. Roosevelt Christ«, murmelte ich und wünschte, mir stünden stärkere Worte zu Gebote.
»Ein Glück, daß le petit James seinen Gegner nicht getötet hat«, fügte Louise hastig hinzu. »In diesem Fall würde die Strafe viel... ooh!« Sie brachte ihren gestreiften Rock gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, als ich die soeben servierten Erfrischungen vom Tisch fegte. Scheppernd ging das Tablett zu Boden. Ich hielt die Hände gegen die Rippen gepreßt, die rechte umklammerte schützend den Goldring an der linken.
»Dann ist er also nicht tot?« fragte ich wie im Traum. »Hauptmann Randall... er lebt?«
»Aber ja.« Sie beäugte mich neugierig. »Du hast es nicht gewußt? Er ist schwer verletzt, aber angeblich auf dem Wege der Besserung. Geht es dir gut, Claire? Du siehst...« Aber das Ende des Satzes ging in dem Dröhnen unter, das meine Ohren erfüllte.
»Du hast zu früh zu viel getan«, sagte Louise streng, während sie die Vorhänge aufzog. »Ich habe es dir gesagt, nicht wahr?«
»Ich glaube schon«, erwiderte ich, als ich mich aufsetzte und dabei sorgfältig auf etwaige Anzeichen von Schwäche achtete. Kein Schwindel, kein Ohrensausen, keine Tendenz umzufallen. Offenbar war ich wieder auf der Höhe.
»Ich brauche mein gelbes Kleid - und würdest du dann die Kutsche bestellen, Louise?« bat ich.
Entsetzt sah sie mich an. »Du willst doch nicht etwa ausgehen? Unsinn! Monsieur Clouseau kommt, um nach dir zu sehen! Ich habe einen Boten geschickt, ihn sofort zu holen!«
Die Nachricht,
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