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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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näher, aber ich spürte, daß er dastand und mich anblickte, und ich hörte seinen heftigen Atem.
    »Claire«, sagte er verzweifelt, »Claire, verstehst du denn nicht... Claire, du mußt mit mir reden! Um Himmels willen, Claire, ich weiß nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge war!«

    Wie erstarrt saß ich da und klammerte mich an das rauhe Holz der Bank. Nach einer Weile hörte ich ein lautes Knirschen auf dem Boden vor mir. Ich öffnete die Augen einen Spalt und sah, daß er sich hingesetzt hatte - auf den nassen Kies zu meinen Füßen. Da saß er nun mit gesenktem Kopf. Auf seinem feuchten Haar glitzerten die Regentropfen.
    »Willst du mich betteln lassen?« fragte er.
    »Es war ein Mädchen«, erwiderte ich schließlich. Meine Stimme klang seltsam rauh und heiser. »Mutter Hildegarde hat sie getauft. Faith. Faith Fraser. Mutter Hildegarde hat einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor.«
    Der gesenkte Kopf vor mir rührte sich nicht. Nach einer Weile fragte Jamie ruhig: »Hast du das Kind gesehen?«
    Nun hatte ich die Augen ganz geöffnet. Ich starrte auf meine Knie, wo verwehte Regentropfen von den Reben hinter mir Wasserflecken auf der Seide hinterlassen hatten.
    »Ja. Die maîtresse sage-femme sagte, es wäre besser, also haben sie es mir gezeigt.« Mir klang noch die Stimme von Madame Bonheur im Ohr, der ältesten und angesehensten unter den Hebammen, die im Höpital des Anges ehrenamtlich arbeiteten.
    »Gebt ihr das Kind. Es ist besser, wenn die Frauen es sehen. Dann stellen sie sich keine merkwürdigen Dinge vor.«
    Also brauchte ich mir nichts vorzustellen, sondern erinnerte mich.
    »Sie war vollkommen«, sagte ich leise, als spräche ich mit mir selbst. »So klein. Ihr Kopf paßte in meine hohle Hand. Ihre Ohren standen ein klein wenig ab... ich konnte das Licht durchscheinen sehen.«
    Das Licht hatte auch durch ihre Haut geschienen, die runden Wangen und Pobacken schimmerten wie Perlen, die reglos und kühl einen Hauch der Unterwasserwelt mitbrachten.
    »Mutter Hildegarde hat sie in weißen Satin gewickelt«, sagte ich und starrte auf meine Hände, die ich im Schoß zu Fäusten geballt hatte. »Ihre Augen waren geschlossen. Sie waren schräg, aber noch ohne Wimpern. Ich sagte, die Augen seien von dir, aber die Hebamme meinte, alle Babys hätten solche Augen.«
    Zehn Finger und zehn Zehen. Keine Nägel, aber winzige, schimmernde Gelenke, Kniescheiben und Fingerknöchel wie Opale, wie die Knochen der Erde selbst. Denn du bist Erde...

    Ich erinnerte mich an die fernen Geräusche im Spital, in dem das Leben weiterging, und an das Gemurmel von Mutter Hildegarde und Madame Bonheur in meiner Nähe; sie sprachen von dem Priester, den Mutter Hildegarde bitten wollte, eine Messe für das Kind zu lesen. Ich erinnerte mich an Madame Bonheurs ruhigen, wissenden Blick, als sie mich untersuchte und sah, wie schwach ich war. Vielleicht sah sie auch das Glänzen in meinen Augen, mit dem sich das Fieber ankündigte. Dann wandte sie sich wieder an Mutter Hildegarde und sprach diesmal noch leiser - vielleicht schlug sie vor, noch ein wenig zu warten, da zwei Beerdigungen erforderlich werden könnten.
    Und sollst zu Erde werden.
    Aber ich war von den Toten zurückgekehrt. Einzig und allein Jamies Macht über meinen Körper war stark genug gewesen, mich von jener äußersten Grenze zurückzuholen, und Maître Raymond hatte es gewußt. Ich wußte, daß nur Jamie selbst mich die letzte Wegstrecke aus dem Totenreich ins Land der Lebenden führen konnte. Deshalb war ich vor ihm weggelaufen, hatte alles getan, um ihn fernzuhalten, um dafür zu sorgen, daß er nie wieder zu mir kam. Denn ich wollte nicht zurückkehren, ich wollte nichts mehr fühlen. Ich wollte mich der Liebe nicht mehr preisgeben, nur damit sie mir dann wieder genommen wurde.
    Aber es war zu spät. Das wußte ich, selbst als ich noch darum kämpfte, das graue Leichentuch festzuhalten. Der Kampf beschleunigte nur seine Auflösung, es war, als würde man nach Wolkenfetzen greifen, die sich als kalter Nebel zwischen den Fingern verflüchtigen. Nun spürte ich das Licht, das zu mir durchdrang.
    Jamie war aufgestanden. Sein Schatten fiel auf meine Knie; bestimmt waren nun die Wolken zerrissen, denn ohne Licht gibt es keinen Schatten.
    »Claire«, flüsterte er. »Bitte. Laß dich von mir trösten.«
    »Trösten?« entgegnete ich. »Wie willst du das machen? Kannst du mir mein Kind zurückgeben?«
    Er sank vor mir auf die Knie, aber ich hielt den Kopf gesenkt

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