Die Geliehene Zeit
Rattenzauber?«
»Feigling!« schimpfte er, bevor er sich hinunterbeugte und unter eine Plane spähte. »Der Rattenzauber ist ein alter schottischer Brauch. Wenn man im Haus oder in der Scheune Ratten hatte, vertrieb man sie mit einem selbstverfaßten Gedicht - oder einem Lied. Man mußte den Ratten lediglich erklären, wie schlecht das Essen in diesem Haus ist und daß sie anderswo bessere Speisen finden. Dann mußte man ihnen nur noch genau den Weg beschreiben, und wenn das Licht gut war, machten sie sich auf und davon.«
Er zog einen Karton mit der Aufschrift JAKOBITEN, VERSCHIEDENES hervor und trug ihn zum Tisch. Dabei sang er:
Schert euch hinfort, ihr Rattenpack,
denn hier bei uns wird niemand satt.
Wir können nur noch klagen,
denn leer ist unser Magen.
Krachend ließ er den Karton auf den Tisch fallen. Dann verneigte er sich vor der kichernden Brianna, wandte sich wieder den Stapeln zu und fuhr mit lauter Stimme fort:
Bei Campbells, da gibt’s reichlich Futter,
sind die Schränke voll mit Rahm und Butter.
Und dort hält keine Katze Wacht,
’s gibt Speis und Schmaus, daß ’s Herze lacht.
»Haben Sie das gerade erfunden?« Brianna pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Klar.« Schwungvoll setzte Roger den nächsten Karton auf den Tisch. »Wenn ein Rattenzauber wirken soll, muß er ein Original sein.« Roger ließ den Blick über die Reihen von Kisten gleiten. »Nach diesem Vortrag müßte eigentlich jede Ratte im Umkreis von einem Kilometer verschwunden sein.«
»Gut.« Brianna zog ein Taschenmesser heraus und schlitzte das Klebeband des obersten Kartons auf. »Das könnten Sie auch mal in unserer Pension machen. Mama ist überzeugt davon, daß es im Badezimmer Mäuse gibt. Irgendwas hat an ihrer Seife genagt.«
»Was man tun muß, um eine Maus zu vertreiben, die Seife frißt, weiß Gott allein. Meine Kräfte übersteigt es jedenfalls.« Er rollte ein zerschlissenes, rundes Kniekissen heran, das er hinter einem hohen Stapel alter Lexika entdeckt hatte, und ließ sich neben Brianna nieder. »Hier, nehmen Sie die Kirchenbücher. Die lassen sich leichter lesen.«
Den ganzen Vormittag arbeiteten sie in ungetrübter Harmonie. Zwar fanden sie inmitten aufwirbelnder Staubwolken zahllose interessante Kleinigkeiten und hier und da ein Silberfischchen, jedoch nur wenig, was für ihre Nachforschungen von Bedeutung war.
»Wir sollten mal eine Mittagspause einlegen«, meinte Roger schließlich. Eigentlich widerstrebte es ihm von Grund auf, ins Haus zurückzukehren, wo er Fiona ausgeliefert sein würde, doch Briannas Magen knurrte schon fast so laut wie sein eigener.
»Gut. Nach dem Essen können wir weitermachen, wenn Sie nicht zu müde sind.« Brianna stand auf und streckte sich, wobei ihre geballten Fäuste beinahe an die Deckenbalken der alten Garage stießen. Sie wischte sich die Hände an den Jeans ab und verschwand zwischen den Stapeln von Kisten.
»He!« Kurz vor der Tür blieb sie stehen. Roger, der ihr folgte, wäre fast über sie gestolpert.
»Was ist?« fragte er. »Schon wieder eine Ratte?« Die Sonne ließ in ihrem Haar kupferfarbene und goldene Funken aufleuchten. Sie war von einer Aura schimmernder Staubkörnchen umgeben, und ihr Profil mit der langen schmalen Nase hob sich vom Gegenlicht ab - sie sah aus wie Unsere liebe Frau aus den Archiven.
»Nein. Sehen Sie mal!« Sie wies auf einen Karton in der Mitte eines Stapels. An der Seite klebte ein Zettel mit der Aufschrift RANDALL.
Roger durchzuckte bei diesem Anblick nicht nur gespannte Erregung, sondern auch eine dunkle Vorahnung. Briannas Freude hingegen war ungetrübt.
»Vielleicht finden wir hier das Material, das wir suchen!« rief sie. »Mama sagt, daß sich mein Vater für diese Dinge interessiert hat. Vielleicht hat er sich beim Reverend danach erkundigt.«
»Möglich.« Mit aller Kraft verdrängte Roger das ungute Gefühl, das ihn beim Anblick des Namens überkommen hatte. Er kniete sich hin, um den Karton hervorzuziehen. »Nehmen wir ihn mit ins Haus. Nach dem Essen können wir ihn durchsehen.«
Als sie den Karton später im Arbeitszimmer des Reverend öffneten, fanden sie eine eigentümliche Sammlung von Dingen. Unter alten Fotokopien von Seiten aus verschiedenen Kirchenbüchern lagen zwei, drei Musterungslisten der Armee, Briefe und Papiere, ein schmales, kleines Notizbuch mit grauen Kartondeckeln, ein Stapel verblichener Fotografien mit aufgerollten Ecken und eine feste Mappe mit der Aufschrift
Weitere Kostenlose Bücher