Die Geliehene Zeit
Ohne die Tasse abzustellen, ging ich nachsehen; sicher war es jemand, der sich nach Jamies Gesundheitszustand erkundigen wollte. Ich war entschlossen, den ungelegenen Besucher rasch wieder loszuwerden. Vielleicht war Cameron auf eine unklare Stelle in einem Bericht gestoßen, oder Seine Hoheit hatte es sich anders überlegt und ließ ausrichten, daß Jamie von seiner Teilnahme an dem Ball doch nicht dispensiert sei. Egal, Jamie würden sie nur über meine Leiche hier rausbekommen.
Ich riß die Tür auf, und der Gruß erstarb mir auf den Lippen. Vor mir stand Jack Randall.
Als ich den verschütteten Tee auf meinem Rock spürte, kam ich wieder zu mir, doch da stand er schon im Zimmer. Er musterte mich mit seiner gewohnt verächtlichen Miene, dann warf er einen Blick auf die geschlossene Schlafzimmertür.
»Sie sind allein?«
»Ja!«
Seine haselnußbrauen Augen wanderten mißtrauisch zwischen mir und der Tür hin und her. Er sah nicht sehr gesund aus, er war blaß und schlecht ernährt, und man sah ihm an, daß er sich meist drinnen aufhielt, doch er war wachsam wie eh und je.
Schließlich gab er sich einen Ruck, packte mich am Arm und ergriff meinen abgelegten Umhang.
»Kommen Sie mit.«
Ich hätte mich von ihm lieber in Stücke reißen lassen, als daß ich einen Laut von mir gegeben hätte, der die Aufmerksamkeit Jamies erregt hätte.
Wir waren bereits ein gutes Stück den Korridor entlanggegangen, bevor ich es wagte zu sprechen. Innerhalb des Wohnbereichs gab es keine Wachen, aber das ganze Gelände wurde streng bewacht. Er konnte nicht hoffen, mich unbemerkt aus dem Palast zu bekommen. Was auch immer er vorhatte, er mußte es hier tun.
Mord vielleicht, aus Rache für die Verletzung, die Jamie ihm zugefügt hatte? Bei dem Gedanken wurde mir flau im Magen. Ich musterte ihn verstohlen von der Seite, während wir durch den von Kerzen erleuchteten Korridor schritten. Die Kerzen in diesem Flügel des Palastes waren klein, die Flammen schwach; sie erfüllten keinen dekorativen Zweck, sondern sollten lediglich den in ihre Zimmer zurückkehrenden Bewohnern den Weg erhellen.
Randall trug keine Uniform und schien vollkommen unbewaffnet. Seine Kleidung war schlicht und unauffällig. Über einer einfachen braunen Kniehose trug er einen dicken Rock. Nur seine stramme Körperhaltung und die etwas überheblich wirkende Neigung seines Kopfes - er trug auch keine Perücke - verrieten, wer er war. Er hätte, gut getarnt wie er war, in Begleitung der Ballgäste leicht als Diener in den Festsaal schlüpfen können.
Nein, sagte ich mir, ihn weiterhin mißtrauisch beobachtend, während wir aus dem Halbdunkel wieder in den Lichtkreis einer Kerze gelangten. Er war nicht bewaffnet. Doch der Griff, mit dem er meinen Arm umklammert hielt, war eisenhart. Aber wenn er
vorhatte, mich zu erdrosseln, würde er merken, daß ich kein leichtes Opfer war. Ich war fast so groß wie er und weitaus besser genährt.
Als hätte er meine Gedanken erraten, blieb er am Ende des Korridors stehen und riß mich herum.
»Ich will Ihnen nichts zuleide tun«, sagte er mit leiser, aber fester Stimme.
»Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen«, gab ich zurück. Ich überlegte, ob mich jemand hören würde, wenn ich hier um Hilfe riefe. Hinter zwei verschlossenen Türen, einem Treppenabsatz und einer langen Treppe stand eine Wache.
Andererseits befanden wir uns in einer Pattsituation. Er konnte mich nicht weiterführen, und ich konnte von da, wo wir uns jetzt befanden, nicht um Hilfe rufen. Dieser Teil des Korridors wurde kaum benutzt, und die wenigen Bewohner dieses Traktes hielten sich zu dieser Stunde im anderen Flügel - im Ballsaal - auf.
Randalls Stimme klang ungeduldig.
»Seien Sie nicht töricht. Wenn ich Sie töten wollte, so könnte ich das hier erledigen. Das wäre weitaus ungefährlicher, als nach draußen zu gehen. Und«, fügte er hinzu, »wenn ich das vorhätte, weshalb hätte ich dann Ihren Umhang mitnehmen sollen?« Wie zum Beweis hob er den Arm hoch, über den er meinen Mantel gelegt hatte.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« gab ich zurück, obwohl dieser Punkt durchaus einleuchtend war. »Weshalb haben Sie ihn denn mitgenommen?«
»Weil Sie mit mir nach draußen gehen sollen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, und ich will nicht, daß wir dabei belauscht werden.« Er warf einen Blick zur Tür. Die Türen in Holyrood waren alle mit dem gleichen Muster dekoriert: Die oberen vier Paneele waren in Form eines Kreuzes
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