Die Geliehene Zeit
lag eine frostige, geradezu giftige Kälte.
»Vielleicht später«, erwiderte ich, ebenso kühl wie er. »Wenn nicht für Sie selbst, für wen benötigen Sie dann meine Hilfe?«
Er zögerte, fuhr dann aber fort:
»Für meinen Bruder.«
»Ihren Bruder?« Ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen. »Alexander?
»Mein ältester Bruder William kümmert sich, soweit ich weiß,
brav und rechtschaffen um die Verwaltung der Familiengüter in Sussex und benötigt keine Hilfe«, gab er trocken zurück. »Ja, mein Bruder Alex.«
Ich streckte die Hand aus, um am kalten Stein eines Grabmals Halt zu finden.
»Erzählen Sie«, forderte ich ihn auf.
Es war eine einfache - und eine traurige - Geschichte. Wenn mir jemand anders als Jonathan Randall davon erzählt hätte, wäre ihm mein aufrichtiges Mitgefühl sicher gewesen.
Da Alexander Randall seine Stellung beim Herzog von Sandringham wegen des Skandals um Mary Hawkins verloren hatte und er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands keinen neuen Posten finden konnte, war er gezwungen gewesen, seinen Bruder um Hilfe zu ersuchen.
»William schickte ihm zwei Pfund und einen Brief, gespickt mit ernsten Ermahnungen.« Jack Randall lehnte sich an die Wand und schlug die Füße übereinander. »William ist ein sehr ernsthafter Mensch, fürchte ich. Aber er war nicht bereit, Alex bei sich aufzunehmen. Williams Gattin ist ein bißchen... extrem, möchte ich sagen, in ihren religiösen Überzeugungen.« In seiner Stimme lag ein Hauch von Spott, was ihn mir in diesem Augenblick sympathisch machte. Ober seinem Nachfahren, der äußerlich sein Ebenbild war, unter anderen Umständen hätte ähnlicher sein können?
Der Gedanke an Frank brachte mich so sehr aus dem Gleichgewicht, daß ich Randalls folgende Bemerkung überhörte.
»Verzeihung, was haben Sie gesagt?« Ich preßte meine Hände so fest zusammen, daß mir mein goldener Ehering in den Finger schnitt. Frank war tot. Ich mußte aufhören, an ihn zu denken.
»Ich sagte eben, daß ich Alex ein Zimmer in der Nähe der Burg besorgt habe, damit ich selbst nach ihm sehen kann. Denn meine Mittel erlauben es nicht, einen Dienstboten für ihn zu engagieren.«
Durch die Besetzung Edinburghs war es dann allerdings schwierig geworden, sich um ihn zu kümmern, so daß Alex Randall im vergangenen Monat mehr oder weniger auf sich gestellt war; nur eine Frau kam hin und wieder, um sauberzumachen. Durch die kalte Witterung, die schlechte Ernährung und die ärmlichen Verhältnisse hatte sich sein ohnehin schlechter Gesundheitszustand noch verschlimmert. Schließlich hatte sich Jack Randall, tief besorgt,
an mich um Hilfe gewandt. Und um diese Hilfe zu erhalten, hatte er sich entschlossen, seinen König zu verraten.
»Weshalb kommen Sie zu mir?« fragte ich.
Er sah mich etwas überrascht an.
»Weil Sie sind, wer Sie sind.« Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Wenn man vorhat, seine Seele zu verkaufen, ist es dann nicht sinnvoll, sich an die Mächte der Finsternis zu wenden?«
»Sie glauben tatsächlich, daß ich zu den Mächten der Finsternis gehöre?« Das war offensichtlich der Fall. Ironie lag seinem Wesen zwar ganz und gar nicht fern, doch alles an seinem augenblicklichen Verhalten deutete darauf hin, daß er es ernst meinte.
»Abgesehen von den Geschichten, die in Paris über Sie in Umlauf waren, haben Sie es mir doch selbst gesagt«, erwiderte er. »Als ich Sie aus Wentworth habe gehen lassen.« Er trat einen Schritt zurück.
»Das war ein schwerer Fehler«, fuhr er leise fort. »Sie hätten diesen Ort niemals lebend verlassen dürfen, Sie gefährliche Kreatur. Und dennoch hatte ich keine andere Wahl; Ihr Leben war der Preis, den er forderte. Und ich hätte noch mehr bezahlt für das, was ich dafür von ihm bekommen habe.«
Ich gab ein zischendes Geräusch von mir, zügelte mich aber rasch, doch er hatte es bereits gehört. Zwischen den dahinjagenden Wolken lugte der Mond hervor, der ihn von hinten durch das zerbrochene Fenster anstrahlte. In der Dunkelheit, wenn er wie jetzt den Kopf etwas abgewandt hatte und der grausame Zug um den Mund nicht sichtbar war, sah er wieder dem Mann täuschend ähnlich, den ich einst geliebt hatte. Frank.
Doch ich hatte diesen Mann verraten; dieser Mann würde niemals existieren. Laßt uns den Baum in seinem Saft verderben und ihn aus dem Lande der Lebendigen ausrotten, daß seines Namens nimmermehr gedacht wird.
»Hat er es Ihnen erzählt?« fragte die leise,
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