Die Geliehene Zeit
Du und deine ganze verdammte Familie! Haben Sie jemals darüber nachgedacht?« fragte sie plötzlich und zog die Augenbrauen hoch. Ihre klugen Augen sprühten vor Empörung.
»Haben Sie sich jemals Gedanken gemacht, daß es womöglich gar nicht Ihr eigenes Schicksal ist, das Sie zu dem macht, was Sie sind? Daß Sie vielleicht nur deshalb das Zweite Gesicht haben, weil es einem anderen nutzt, und gar nichts mit Ihnen selbst zu tun hat - nur eben, daß Sie es sind, die diese Gabe besitzt und darunter leiden muß?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich zögernd. »Oder ja, jetzt, da Sie es sagen, ich habe darüber nachgedacht. Warum gerade ich? Das fragt man sich natürlich die ganze Zeit. Aber ich bin nie zu einer befriedigenden Antwort gelangt. Sie glauben, Sie haben diese Fähigkeit vielleicht deshalb, weil die Frasers dazu verdammt sind, den Zeitpunkt ihres Todes schon vor der Zeit zu erfahren? Das ist ja eine höllische Vorstellung.«
»Ja, höllisch«, nickte sie bitter. Sie lehnte sich gegen das Grabmal aus rotem Stein und starrte in den Schneeregen.
»Was meinen Sie?« fragte sie plötzlich. »Soll ich es ihm sagen?«
Ich war verblüfft.
»Wem? Dem Herrn von Lovat?«
»Ja, Seiner Lordschaft. Er fragt, was ich sehe, und er schlägt mich, wenn ich ihm sage, daß es nichts zu sehen gibt. Er weiß es; er sieht es mir an, wenn ich das Zweite Gesicht gehabt habe. Ich habe keine Macht außer der Macht, nicht zu sagen, was ich weiß.« Ihre langen weißen Finger kamen unter ihrem Umhang hervor und spielten nervös mit den Falten des regennassen Tuchs.
»Aber es besteht doch immer eine Chance, nicht wahr?«« fuhr sie fort. Sie hatte den Kopf geneigt, so daß die Kapuze ihres Umhangs ihr Gesicht verhüllte. »Es besteht doch die Chance, daß es etwas ändert, wenn ich es sage. Ab und zu war das der Fall, wissen Sie. Ich habe es Lachlan Gibbons gesagt, als ich seinen Schwiegersohn von Seegras umschlungen vor mir sah. Aufmerksam hörte Lachlan zu; dann ging er hinaus und schlug ein Loch in das Boot seines Schwiegersohnes.
« Sie mußte lachen. »Mein Gott, das war eine Geschichte! Aber als eine Woche später der große Sturm kam, ertranken drei Männer, und Lachlans Schwiegersohn saß zu Hause und besserte sein Boot aus. Und als ich ihn das nächstemal sah, war sein Hemd trocken, und in seinem Haar hing kein Seegras mehr.«
»Also ist es doch möglich«, sagte ich leise. »Manchmal.«
»Manchmal«, nickte sie, weiterhin auf den Boden starrend. Lady Sarah Fraser lag zu ihren Füßen, auf der Grabplatte befand sich ein Totenschädel mit überkreuzten Gebeinen. Hodie mihi cras tibi, lautete die Inschrift. Sic transit gloria mundi. Heute ich, morgen du. So vergeht der Ruhm der Welt.
»Manchmal auch nicht. Wenn ich einen Mann in seinem Leichentuch sehe, dann wird er krank - und daran ist nichts zu ändern.«
»Mag sein«, sagte ich. Ohne Medikamente, ohne Instrumente, ohne Wissen - ja, dann war Krankheit Schicksal, und es war nichts zu machen. Aber wenn ein Heiler oder eine Heilerin zur Stelle war und die Mittel besaß, um zu heilen... war es möglich, daß Maisri die Schatten einer bevorstehenden Krankheit wie ein echtes Symptom, so wie Fieber oder Ausschlag, sah? Und wurde dann allein durch den Mangel an medizinischem Wissen die Prophezeiung zum Todesurteil? Ich würde es niemals erfahren.
»Wir werden es niemals erfahren«, sagte ich und wandte mich an sie. »Wir können es nicht sagen. Wir wissen Dinge, die andere Menschen nicht wissen, und wir können nicht erklären, wie oder warum. Wir besitzen diese Fähigkeit - und Sie haben recht, es ist ein Fluch. Aber wenn man Wissen besitzt, das Schaden abwenden könnte... glauben Sie, daß man auch Schaden verursachen kann?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht. Wenn man weiß, daß man bald sterben wird, was würde man dann tun? Würde man nur Gutes tun oder würde man seine allerletzte Chance nutzen, seinen Feinden Schaden zuzufügen - Schaden, der sonst vermieden worden wäre?«
»Wenn ich das bloß wüßte.« Wir schwiegen wieder und sahen zu, wie sich der Schneeregen allmählich in Schnee verwandelte und die Flocken durch die verfallenen Mauern der Abteikirche wirbelten.
»Manchmal weiß ich, daß etwas zu sehen ist«, sagte Maisri, »aber ich kann es ausblenden, einfach nicht hinsehen. So war es
auch bei Seiner Lordschaft; ich wußte, da war etwas, aber es gelang mir, es nicht zu sehen. Aber dann befahl er mir, den Spruch zu sprechen, der die Vision
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