Die Geliehene Zeit
sein Vater in aller Seelenruhe. »Die meisten, die damals etwas dazu zu sagen hatten, sind heute tot, bankrott oder sitzen verarmt in Frankreich. Ich hingegen bin immer noch hier.«
»Aber...« Der junge Simon war hochrot im Gesicht, wie so häufig, wenn er sich mit seinem Vater anlegte.
»Es reicht jetzt«, unterbrach ihn der Alte heftig. Er sah seinen Sohn kopfschüttelnd an. »Guter Gott! Manchmal wünschte ich mir, Brian wäre noch am Leben. Er mag ein Narr gewesen sein, aber wenigstens wußte er, wann es genug war.«
Der junge Simon und Jamie waren beide vor Ärger rot im Gesicht, aber nachdem sie sich einen wachsamen Blick zugeworfen hatten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit dem Essen zu.
»Und was betrachten Sie so aufmerksam?« murmelte Lord Lovat. Er hatte meinen Blick aufgefangen.
»Sie«, sagte ich offen heraus. »Sie sehen gar nicht gut aus.« Das war richtig. Lord Lovat war mittelgroß und im Alter etwas in die Breite gegangen, doch normalerweise wirkte er noch rüstig und voller Energie. Doch in letzter Zeit machte er einen müden und geschwächten Eindruck, als wäre er irgendwie geschrumpft. Die Ringe unter seinen Augen waren tiefer geworden, und er sah kränklich blaß aus.
»Mmmpf«, murmelte er. »Natürlich nicht. Im Bett finde ich keine Ruhe, und wenn ich wach bin, auch nicht. Kein Wunder, wenn ich nicht wie ein frischgebackener Bräutigam aussehe.«
»Aber doch, Vater«, warf der junge Simon boshaft ein. Er witterte eine Chance, sich zu rächen. »Wie ein Bräutigam nach der Hochzeitsnacht, völlig saft- und kraftlos.«
»Simon!« rügte Lady Frances. Trotzdem löste Simons Bemerkung Heiterkeit aus, und auch Lord Lovats Mund verzog sich zu einem leichten Grinsen.
»Aye?« sagte er. »Na, dagegen hätte ich nichts einzuwenden, mein Junge, das kann ich dir sagen.« Er rutschte unruhig auf seinem
Stuhl hin und her und schob die Platte mit dem Rübengemüse beiseite, die ihm gereicht wurde. Dann griff er nach seinem Weinglas, roch daran und stellte es verdrießlich wieder auf den Tisch.
»Es ist unanständig, jemanden so anzustarren«, wandte er sich kühl an mich. »Oder haben die Engländer andere Vorstellungen von Höflichkeit?«
Ich errötete leicht, schlug die Augen aber nicht nieder. »Ich habe mich nur gewundert - Sie haben keinen Appetit, Sie trinken auch nicht. Was fehlt Ihnen sonst noch?«
»Sie wollen wohl zeigen, was Sie können, hm?« Lovat lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem dicken Bauch wie ein alter Frosch. »Eine Heilerin, sagt mein Enkel. Eine Weiße Frau, aye?« Er warf Jamie einen frostigen Blick zu, der aber in aller Ruhe weiteraß und seinen Großvater nicht beachtete. Lovat murmelte etwas und sah mich spöttisch an.
»Ich habe nicht getrunken, Lady, weil ich nicht pissen kann, und ich habe keine Lust, wie eine Schweinsblase aufgeschwemmt zu werden. Ich kann nicht schlafen, da ich dauernd aufstehen muß, um mich zu erleichtern, und dann - nichts. Was sagen Sie dazu, Dame Aliset?«
»Vater«, mischte sich Lady Frances ein, »wirklich, ich glaube nicht, daß du...«
»Könnte eine Blasenentzündung sein, aber es klingt eher nach Prostatitis«, gab ich zur Antwort. Ich nahm mein Weinglas in die Hand, trank genüßlich einen Schluck und stellte das Glas wieder auf den Tisch. Dabei lächelte ich Seine Lordschaft gelassen an.
»Oh, tatsächlich?« sagte er und hob die Augenbrauen. »Und was ist das, wenn ich fragen darf?«
Ich schob die Ärmel zurück, hob die Hände und ließ meine Finger spielen wie ein Zauberer vor einem Taschenspielertrick. Dann streckte ich den linken Zeigefinger in die Höhe.
»Die männliche Prostatadrüse«, begann ich dozierend, »umschließt die Harnröhre, die von der Blase nach draußen führt.« Ich umschloß mit zwei Fingern meiner rechten Hand meinen linken Zeigefinger. »Wenn die Prostata sich entzündet oder sich vergrößert - das nennt man dann Prostatitis -, drückt sie auf die Harnröhre«, ich schloß meine beiden Finger enger um den linken Zeigefinger, »und schneidet den Urinfluß ab. Kommt bei älteren Männern ziemlich häufig vor. Verstehen Sie?«
Lady Frances, die mit ihrer Vorstellung von gesitteten Tischgesprächen keinen Eindruck auf ihren Vater gemacht hatte, flüsterte aufgeregt mit ihrer jüngeren Schwester, und beide musterten mich argwöhnisch.
Lord Lovat hingegen folgte gebannt meinem Vortrag.
»Aye, ich verstehe«, sagte er. Er kniff seine schmalen Augen zusammen und blickte nachdenklich
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