Die Geliehene Zeit
blieb mitten im Gedränge auf der Straße stehen, um nachzudenken. Zwar besaß ich kein Geld, aber immer noch ein paar Wertgegenstände. Der Kristall, den mir Raymond in Paris gegeben hatte - für den Stein selbst würde ich nicht viel bekommen, aber die Goldfassung und die Kette waren etwas wert. Meine Eheringe - nein, von ihnen wollte ich mich nicht trennen, auch nicht vorübergehend. Aber die Perlen... ich tastete in meiner Tasche nach der Perlenkette, die Jamie mir zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie war immer noch fest in meinen Rocksaum eingenäht.
Die kleinen unregelmäßigen Barockperlen fühlten sich glatt und hart an. Sie waren zwar nicht so wertvoll wie Orientperlen, aber es war eine schöne Kette mit winzigen Goldplättchen zwischen den Perlen. Sie hatte Jamies Mutter Ellen gehört. Es hätte ihr bestimmt gefallen, das Schmuckstück für das Wohl seiner Männer zu opfern.
»Fünf Pfund«, forderte ich mit Nachdruck. »Sie ist zehn wert, und ich könnte sechs dafür bekommen, wenn ich mir die Mühe machte, die Straße hinauf zu einem anderen Geschäft zu gehen.« Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber ich streckte die Hand nach der Kette aus, als wollte ich sie wieder vom Ladentisch nehmen und das Geschäft des Pfandleihers verlassen. Der Inhaber, Mr. Samuels, legte jedoch rasch die Hand auf die Kette, und sein Eifer verriet, daß ich von Anfang an sechs Pfund hätte verlangen sollen.
»Drei Pfund, zehn Shilling«, bot er. »Das bringt meine Familie zwar an den Bettelstab, aber für eine so vornehme Dame wie Sie...«
Die kleine Glocke über der Ladentür ertönte, als hinter mir jemand eintrat. Auf den ausgetretenen Dielen waren zaghafte Schritte zu hören.
»Entschuldigen Sie«, begann die Stimme eines Mädchens. Ich wirbelte herum und sah im Halbdunkel des Geschäfts Mary Hawkins stehen. Sie war im letzten Jahr gewachsen und voller geworden. Und trotz ihrer Jugend strahlte sie eine neue Reife und Würde aus. Sie blinzelte, dann schloß sie mich mit einem Freudenschrei in die Arme.
»Was machst du denn hier?« fragte ich, nachdem ich mich aus der Umarmung befreit hatte.
»Vaters Schwester lebt hier«, erwiderte sie. »Ich w-wohne bei ihr. Oder meinst du, warum ich hier bin?« Mit einer Armbewegung verwies sie auf Mr. Samuels’ schäbiges Reich.
»Ja, das auch. Aber das hat Zeit.« Ich wandte mich an den Pfandleiher. »Vier Pfund, sechs Shilling, oder ich gehe die Straße hinauf«, erklärte ich. »Entschließen Sie sich. Ich bin in Eile.«
Leise murrend holte Mr. Samuels unter dem Ladentisch seine Kasse hervor, während ich mich weiter mit Mary unterhielt.
»Ich muß ein paar Decken kaufen. Kannst du mich begleiten?« Sie warf einen Blick nach draußen, wo ein untersetzter Lakai auf sie wartete. »Wenn du danach mit mir kommst. Oh, Claire, ich freue mich so, dich zu sehen!«
»Er hat mir geschrieben«, gestand Mary, als wir die Straße hinuntergingen. »Alex. Ein Freund hat mir den Brief gebracht.« Ihr Gesicht glühte, als sie seinen Namen aussprach, aber gleichzeitig wirkte sie bedrückt.
»Als ich herausfand, daß er sich in Edinburgh aufhält, b-bat ich
meinen Vater, Tante Mildred besuchen zu dürfen. Er hatte nichts dagegen«, fügte sie bitter hinzu. »Nach allem, was in Paris geschehen war, sah er mich kaum noch an. Er war froh, als ich aus dem Haus war.«
»Also hast du Alex gesehen?« Ich fragte mich, wie es dem jungen Geistlichen seit meinem letzten Besuch ergangen war. Außerdem war mir schleierhaft, wie er den Mut aufgebracht hatte, an Mary zu schreiben.
»Ja. Er hat mich nicht gebeten, ihn zu besuchen«, fügte sie hastig hinzu. »Ich b-bin aus eigenem Antrieb gekommen.« Trotzig hob sie das Kinn, aber ihre Stimme zitterte ein wenig. »Er... er hätte mir nicht geschrieben, aber er glaubte, er müsse bald st-sterben, und er wollte mich wissen... mich wissen lassen...« Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und zog sie rasch in einen Hausdurchgang.
»Ist schon gut.« Hilflos tätschelte ich sie, wohlwissend, daß ich nichts tun konnte, um es wirklich gutzumachen. »Du bist gekommen und hast ihn gesehen. Nur das zählt.«
Sie nickte wortlos und putzte sich die Nase. »Ja.« Ihre Stimme war belegt. »Wir haben... zwei Monate gehabt. Ich s-sage mir immer wieder, das ist mehr, als die meisten Menschen je erleben, zwei Monate Glück... aber wir haben soviel Zeit verloren, die wir h-hätten haben können, und... es ist nicht genug, Claire, es ist nicht genug!«
»Nein«,
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