Die Geliehene Zeit
beurteilen, wie nah die Engländer herangekommen waren.
»Nein«, erwiderte Rupert und hustete wieder. Ich merkte, wie er sich an den Mund griff, und bewegte meine Hand mit einem Zipfel seines Plaids in dieselbe Richtung. Obwohl sich meine Augen nun, so gut es ging, an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich Rupert nur als dunkle Gestalt vor mir auf dem Boden. Vieles konnte man jedoch ertasten. Die Wunde selbst blutete kaum, aber das Tuch, das ich ihm an den Mund hielt, sog sich sofort mit warmem Blut voll.
Die Kugel hatte mindestens eine Lunge durchlöchert, vielleicht auch beide, und seine Brust füllte sich allmählich mit Blut. Mit dieser Verletzung konnte Rupert noch ein paar Stunden überleben, wenn wenigstens eine Lunge normal arbeitete, blieb ihm noch ein Tag. Falls auch der Herzbeutel getroffen war, würde es schneller
gehen. Aber retten konnte ihn nur eine Operation, und zwar eine, die ich nicht durchführen konnte.
Ich merkte, wie jemand hinter mich trat. Ich streckte die Hand aus, und er griff danach. Dougal MacKenzie.
Er ging neben mir in die Hocke und legte seine Hand auf den ausgestreckt daliegenden Rupert.
»Wie steht’s, Mann?« fragte er leise. »Kannst du gehen?« Da meine andere Hand noch auf Ruperts Brust lag, merkte ich, daß er den Kopf schüttelte. Die übrigen Männer in der Kirche hatten begonnen, sich im Flüsterton zu unterhalten.
Dougals Hand legte sich schwer auf meine Schulter.
»Was brauchst du, um ihm zu helfen? Deinen kleinen Kasten? Ist er auf dem Pferd?« Er hatte sich erhoben, bevor ich ihm sagen konnte, daß nichts aus meinem Medizinkasten Rupert helfen konnte.
Ein lautes Krachen vom Altar her setzte dem Geflüster ein Ende, und die Männer tasteten hastig nach ihren Waffen. Es krachte noch einmal, und das Öltuch im Fenster riß entzwei. Frische, kalte Luft und wirbelnde Schneeflocken wehten herein.
»Sassenach! Claire! Bist du da?« Als ich die leise Stimme vom Fenster her hörte, war ich sofort auf den Beinen. Rupert hatte ich vorübergehend vergessen.
»Jamie!« Die anderen atmeten erleichtert auf und ließen die Schwerter und Tartschen scheppernd zu Boden fallen. Der schwache Lichtschein, der von draußen hereindrang, wurde kurz von Jamies Kopf und Schultern verdunkelt. Behende sprang er vom Altar.
»Wer ist hier?« fragte er mit gedämpfter Stimme und sah sich um. »Dougal, bist du’s?«
»Aye, ich bin’s, mein Junge, außerdem deine Frau und noch ein paar Männer. Hast du da draußen irgendwo die englischen Bastarde gesehen?«
Jamie lachte auf.
»Warum, glaubst du wohl, bin ich durchs Fenster reingekommen? Unten am Hügel sind ungefähr zwanzig von der Sorte.«
Dougal gab ein mißbilligendes Grunzen von sich. »Die Hunde, die uns von der Haupttruppe abgeschnitten haben, würde ich sagen.«
»Genau. Ho, mo cridh! Ciamar a tha thu?« Als mein Pferd in
dem Durcheinander eine vertraute Stimme hörte, warf es mit einem freundlichen Wiehern den Kopf hoch.
»Still, du Mistvieh!« wies Dougal das Tier zurecht. »Willst du, daß uns die Engländer hören?«
»Ihn werden die Engländer wahrscheinlich nicht aufhängen«, bemerkte Jamie trocken. »Und um zu merken, daß du hier bist, brauchen sie keine Ohren, sondern nur Augen im Kopf. Der Hang ist matschig, und eure Fußstapfen sind nicht zu übersehen.«
»Mmmpf.« Dougal warf einen Blick in Richtung Fenster, aber Jamie schüttelte bereits den Kopf.
»Das hat keinen Sinn, Dougal. Das Gros steht südlich von hier, und Lord George Murray zieht ihnen entgegen, aber auf dieser Seite tummeln sich immer noch einige Engländer von dem Trupp, auf den wir gestoßen sind. Ein paar von ihnen haben mich über den Hügel gejagt. Ich habe mich seitwärts in die Büsche geschlagen und bin zur Kirche gekrochen, aber ich denke, daß sie damit beschäftigt sind, das Gelände über uns durchzukämmen.« Er streckte die Hand nach mir aus. Sie fühlte sich kalt und klamm an, aber ich war einfach nur froh, ihn zu berühren, ihn bei mir zu haben.
»Gekrochen, so, so? Und wie willst du wieder herauskommen?« fragte Dougal.
Jamie zuckte die Achseln und wies mit dem Kopf auf das Pferd.
»Ich hatte vor, auszubrechen und sie niederzureiten. Von dem Pferd wissen sie ja nichts. Und in dem Durcheinander, das dann entsteht, hätte Claire vielleicht unbemerkt davonschlüpfen können.«
Dougal lachte verächtlich. »Aye, und dich würden sie von deinem Pferd pflücken wie einen reifen Apfel.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«,
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