Die Geliehene Zeit
Inzwischen hatte ich mich ans andere Ende der Kirche zurückgezogen und wartete, eingezwängt zwischen Altar und Wand, daß sich die Lage klärte.
»Ruhe jetzt!« brüllte jemand in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Alle außer dem Pferd gehorchten, und als sich der Lärm legte, wurde auch das Tier ruhiger, verzog sich in eine Ecke und schnaubte nur noch ab und zu mißmutig.
»Hier ist MacKenzie von Leoch«, verkündete die befehlsgewohnte Stimme. »Wer ist sonst noch hier?«
»Ich bin’s, Dougal, Geordie, mit meinem Bruder«, sagte eine zutiefst erleichterte Stimme. »Wir haben auch Rupert mitgebracht, er ist verwundet. Bei Gott, ich dachte, hier hat sich der Leibhaftige verkrochen!«
»Gordon MacLeod von Ardsmuir«, meldete sich ein anderer, den ich nicht kannte.
»Und Ewan Cameron von Kinnoch«, sagte ein dritter. »Wessen Pferd ist das?«
»Meins.« Vorsichtig trat ich hinter dem Altar hervor. Der Klang meiner Stimme löste einen neuen Tumult aus, aber Dougal brachte die Leute mit seiner kräftigen Stimme zum Schweigen.
»RUHE! Verdammt sollt ihr sein! Bist du das, Claire Fraser?«
»Die Königin ist es jedenfalls nicht«, entgegnete ich gereizt. »Willie Coulter ist auch hier, oder er war es noch vor einer Minute. Hat jemand eine Zunderdose dabei?«
»Kein Licht!« befahl Dougal. »Wenn die Engländer uns verfolgen, werden sie die Kirche kaum übersehen, aber falls sie die Verfolgung aufgegeben haben, sollten wir ihre Aufmerksamkeit nicht auf uns lenken.«
»Gut«, sagte ich und biß mir auf die Lippen. »Rupert, kannst du sprechen? Sag etwas, damit ich dich finde.« Ob ich im Dunkeln viel für ihn tun konnte, wußte ich nicht, ich konnte nicht einmal meinen Medizinkasten holen. Aber ich konnte ihn schließlich nicht einfach auf dem Boden verbluten lassen.
Von der andern Seite des Raumes hörte ich ein gequältes Husten, und eine heisere Stimme sagte: »Hierher, Mädel.« Darauf folgte wieder ein Husten.
Leise fluchend ertastete ich mir einen Weg durch die Kirche. Schon allein das gurgelnde Geräusch dieses Husten sagte mir, daß es schlimm um den Verletzten stand. So schlimm, daß ich auch mit Medizinkasten nicht viel würde ausrichten können. Kurz vor dem Ziel ging ich in die Hocke und legte die letzten Schritte geduckt zurück, wobei ich mit ausladenden Armbewegungen Hindernisse zu ertasten versuchte.
Da streifte ich einen warmen Körper, und eine große Hand hielt mich fest. Das mußte Rupert sein, er gab beim Atmen gurgelnde Geräusche von sich.
»Hier bin ich«, sagte ich und tätschelte ihn blind, was beruhigend wirken sollte. Scheinbar hatte ich die richtige Stelle erwischt, denn er kicherte und drückte meine Hand an seinen Körper.
»Mach das noch mal, Mädel, und die Musketenkugel ist vergessen«, meinte er.
Ich entzog ihm meine Hand.
»Später vielleicht«, bemerkte ich trocken. Um seinen Kopf zu finden, tastete ich über seinen Körper, bis mir der borstige Bart zeigte, daß ich mein Ziel gefunden hatte. Behutsam fühlte ich unter den struppigen Haaren nach der Halsschlagader. Der Puls ging
fliegend, aber immer noch ziemlich regelmäßig. Der Schweiß stand Rupert auf der Stirn, aber seine Haut fühlte sich klamm an. Ich streifte seine Nasenspitze, die noch von der Winterluft draußen kalt war.
»Schade, daß ich kein Hund bin«, meinte er und lachte keuchend. »Kalte Nase... wäre ein gutes Zeichen.«
»Ein noch besseres Zeichen wäre es, wenn du aufhören würdest zu reden«, mahnte ich. »Wo hat dich die Kugel getroffen? Nein, sag es nicht, nimm meine Hand und führ sie zu der Wunde... und wenn du sie anderswo hinlegst, Rupert MacKenzie, kannst du hier sterben wie ein Hund, und wir hätten eine Sorge weniger.«
Der mächtige Brustkorb unter meiner Hand vibrierte vor unterdrücktem Lachen. Er führte meine Hand vorsichtig unter seinen Plaid, während ich mit der anderen den hinderlichen Stoff beiseite schob.
»Gut. Ich hab’s«, flüsterte ich. Ich ertastete das Loch in seinem Hemd und riß den Stoff auf. Als ich ihm behutsam über die Brust strich, fühlte ich erst die Gänsehaut und dann die Einschußwunde. Es war ein bemerkenswert kleines Loch, verglichen mit Ruperts bulliger Gestalt.
»Ist die Kugel irgendwo wieder herausgekommen?« wisperte ich. Abgesehen von dem Pferd, das sich noch nicht ganz beruhigen wollte, herrschte in der Kirche Grabesstille. Durch die geschlossene Tür war der Schlachtenlärm von draußen nur gedämpft zu hören. Man konnte nicht
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