Die Geliehene Zeit
Stunde war es dunkel geworden. Auf der Straße unten sah ich den Schein von Laternen. Jamie befand sich jetzt wohl beim Callendar House und suchte das Fenster, an dem ich warten sollte.
Plötzlich überkam mich die absurde Gewißheit, daß er mir gefolgt war, daß er irgendwie herausbekommen hatte, wohin ich ritt, und unten auf der Straße darauf wartete, daß ich mich zeigte.
Hastig stand ich auf und trat ans Fenster. Die Straße war menschenleer, abgesehen von einem Mann, der Salzheringe feilbot. Es war natürlich nicht Jamie. Er konnte mich nicht aufspüren. Niemand aus dem Lager der Stuarts wußte, wo ich mich befand, ich war mutterseelenallein. Von Panik überwältigt, drückte ich die Hände mit aller Macht gegen die Scheibe. Mir war gleich, ob sie zerbrach.
»Mistress Beauchamp! Geht es Ihnen gut?« rief der Oberst höchst beunruhigt.
Ich preßte meine zitternden Lippen zusammen und versuchte, mich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Die Scheibe beschlug, so daß die Szene unten auf der Straße nicht mehr zu sehen war. Äußerlich gelassen, drehte ich mich um und sah den Oberst an.
»Ja, es geht mir gut«, sagte ich. »Wenn Ihre Befragung abgeschlossen ist, möchte ich jetzt gehen.«
»Sie möchten gehen? Hmm.« Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, dann schüttelte er den Kopf.
»Sie bleiben heute nacht hier«, erklärte er. »Und morgen schicke ich Sie weiter Richtung Süden.«
Mein Magen zog sich vor Schreck zusammen. »Nach Süden! Warum, zum Teufel?« platzte ich heraus.
Erstaunt zog er die buschigen roten Augenbrauen hoch und sah mich mit offenem Mund an. Dann faßte er sich und erklärte: »Ich habe Anweisungen, sämtliche Nachrichten, die den Verbrecher Jamie Fraser betreffen, weiterzuleiten. Und ebenso sämtliche Personen, die mit ihm zu tun haben.«
»Ich habe nichts mit ihm zu tun!« protestierte ich. Wenn man von der unbedeutenden Tatsache absah, daß wir verheiratet waren.
Oberst Campbell schenkte meinen Worten keine Beachtung. Er wandte sich dem Schreibtisch zu und blätterte in seinen Unterlagen.
»Aye, da haben wir’s. Hauptmann Mainwaring heißt der Offizier, der Sie nach Süden begleiten soll. Er wird Sie bei Tagesanbruch hier abholen.« Er ließ ein Silberglöckchen ertönen. Die Tür ging auf, und das dienstfertige Gesicht seines Burschen erschien. »Garvie, bringen Sie die Dame auf ihr Zimmer. Und schließen Sie die Tür ab.« Der Oberst verbeugte sich der Form halber vor mir. »Ich denke, wir werden uns nicht wiedersehen, Mrs. Beauchamp. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und eine angenehme Reise.«
Die Reise war weder angenehm, noch ging sie besonders zügig vonstatten. Captain Mainwarings Trupp brachte eine Wagenkolonne mit Nachschub nach Lanark. Danach sollten er und der Rest seiner Einheit südwärts ziehen und unterwegs Botschaften von geringer Dringlichkeit abliefern. Offensichtlich fiel auch ich in diese Kategorie, denn noch immer gab es keine Anzeichen dafür, daß ich meinen Bestimmungsort bald erreichen würde.
»Richtung Süden.« Hieß das London? Hauptmann Mainwaring hatte mir nicht mitgeteilt, wohin wir zogen, aber ich konnte mir nichts anderes vorstellen.
Als ich den Kopf hob, sah ich, wie einer der Dragoner mich über das Feuer hinweg anstarrte. Mit ausdruckslosem Blick starrte ich zurück, bis er rot wurde und die Augen senkte. Solche Blicke war ich gewohnt, obwohl die meisten weniger dreist waren.
Angefangen hatte es mit der Verlegenheit und Schüchternheit des jungen Idioten, der mich nach Livingston brachte. Es hatte eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, daß die reservierte Haltung der englischen Offiziere nicht auf Mißtrauen zurückzuführen war, sondern auf eine Mischung aus Verachtung und Entsetzen und ein wenig Mitleid.
Denn ich war nicht einfach nur vor einer Bande räuberischer, plündernder Schotten gerettet worden. Ich war aus der Gefangenschaft befreit worden, nachdem ich eine ganze Nacht in einem Raum mit Männern verbracht hatte, die nach der festen Überzeugung aller rechtschaffenen Engländer »wilde Tiere waren, die sich der Vergewaltigung, des Raubes und zahlloser anderer grausiger Verbrechen schuldig machten«. Es war undenkbar, daß eine junge Engländerin eine Nacht in Gesellschaft solcher Bestien verbracht haben und mit heiler Haut davongekommen sein könnte.
Daß Jamie mich als angeblich Ohnmächtige aus der Kirche getragen hatte, mochte die Sache zu Anfang vereinfacht haben, hatte aber zweifellos zu dem
Weitere Kostenlose Bücher