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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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bemerken.
    Rasch kam Roger mit seiner Aufzählung zum Ende. Zwar waren ihre Tränen versiegt, doch sie ließ den Kopf hängen, so daß ihr Gesicht unter den dichten Locken verborgen war.
    Nachdem er geendet hatte, schwieg er eine Weile. Dann stand er auf und nahm sie entschlossen beim Arm.
    »Kommen Sie«, sagte er. »Wir sollten ein bißchen Luft schnappen. Der Regen hat aufgehört; wir machen einen Spaziergang.«
     
    Die Luft draußen war frisch und kühl, nach der stickigen Atmosphäre im Arbeitszimmer des Reverend fast schon berauschend. Bei
Sonnenuntergang hatte der heftige Regen nachgelassen, und nun war als Nachhall der schweren Niederschläge nur noch das Tropfen von Bäumen und Büschen zu hören.
    Ich empfand unendliche Erleichterung, als ich das Pfarrhaus verließ. So lange hatte ich mich davor gefürchtet, und nun hatte ich es hinter mir! Selbst wenn Brianna nie - aber nein, sie würde es begreifen. Mochte es auch lange dauern, irgendwann würde sie die Wahrheit erkennen. Das mußte sie, denn sie sah ihr jeden Morgen im Spiegel entgegen. Nun, da ich ihr alles gesagt hatte, fühlte ich mich leicht wie eine Sünderin, die nach der Absolution den Beichtstuhl verläßt und noch nicht an die Buße denkt, die vor ihr liegt.
    Wie eine Geburt, dachte ich. Eine kurze Zeitspanne großer Qual und peinigender Schmerzen und eine Ahnung von schlaflosen Nächten und kräftezehrenden Tagen, die kommen würden. Doch im Augenblick, in einem gesegneten Moment des Friedens, erfüllte meine Seele nichts als stille Euphorie, die keinen Platz für Befürchtungen ließ. Selbst die frische Trauer um die Menschen, die ich gekannt hatte, schien gedämpft.
    Die Luft war feucht und roch nach Frühling, und die Reifen der vorbeifahrenden Autos zischten über den nassen Asphalt. Roger führte mich wortlos den Abhang hinter dem Haus hinunter. An einer moosüberwachsenen Lichtung ging es hinauf und dann wieder hinunter, bis wir auf den Pfad stießen, der zum Fluß führte. An einem Träger der alten Eisenbahnbrücke war auf Höhe des Pfades eine Metalleiter angebracht. Jemand hatte, mit einer Sprühdose bewaffnet, kühn in weißer Farbe BEFREIT SCHOTTLAND auf den Brückenbogen geschrieben.
    Trotz der traurigen Erinnerungen waren meine Gefühle allmählich zur Ruhe gekommen. Das Schlimmste hatte ich überstanden. Brianna wußte jetzt, woher sie stammte. Ich hoffte inständig, daß sie es mit der Zeit auch glauben würde. Mehr als ich mir je eingestanden hatte, brauchte ich einen Menschen, mit dem ich über Jamie reden konnte.
    Ich war unvorstellbar müde, körperlich wie geistig. Doch ich raffte mich ein letztesmal auf, ließ wie schon sooft die Grenzen körperlicher Erschöpfung hinter mir. Bald, versprach ich meinen schmerzenden Gliedern, meiner verletzlichen Seele, meinem verwundeten Herzen. Bald könnt ihr euch ausruhen. Dann werde ich mit den Geistern der Vergangenheit in dem kleinen gemütlichen
Wohnzimmer der Frühstückspension am Feuer sitzen. Dann kann ich in Frieden um sie trauern und meinen Schmerz von den Tränen fortspülen lassen, bevor ich, zumindest vorübergehend, Vergessen im Schlaf finde, einem Schlaf, in dem sie vielleicht wieder lebendig werden.
    Aber noch nicht gleich. Bevor ich zu Bett ging, gab es noch etwas, das ich erledigen mußte.
     
    Schweigend gingen sie eine Zeitlang nebeneinander her. Nur das Geräusch des Verkehrs in der Ferne und die Wellen des Flusses waren zu hören. Weil Roger sie nicht an Dinge erinnern wollte, die Claire vielleicht lieber vergessen hätte, mochte er kein Gespräch beginnen. Doch die Schleusen waren ein für allemal geöffnet worden, und nichts konnte die Flut noch aufhalten.
    Zögernd und stockend stellte sie ihm einzelne Fragen. Er beantwortete sie, so gut er konnte, bevor er, gleichfalls zögernd, seine eigenen stellte. Die Gelegenheit, nach all den Jahren der Selbstbeherrschung und Geheimnistuerei endlich frei sprechen zu dürfen, schien auf Claire wie eine Droge zu wirken. Roger hörte ihr wie gebannt zu und hatte sie bald aus der Reserve gelockt. Als sie die Eisenbahnbrücke erreichten, war sie wieder die starke und lebendige Persönlichkeit, die er anfangs in ihr gesehen hatte.
    »Charles war ein Narr, ein Trunkenbold, ein schwacher, törichter Mensch«, erklärte sie leidenschaftlich. »Sie alle waren Narren - Lochiel und Glengarry und die anderen. Sie haben zu oft miteinander getrunken und sich dabei in Charlies dumme Träume verbissen. Reden ist kein Kunststück, und

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