Die Geliehene Zeit
verschwunden, und der Lärm erstarb.
»Tja, das ist das Verzwickte an der Sache«, sagte Claire, die sich nun abwandte. »Obwohl man nichts weiß, muß man handeln.«
Plötzlich hob sie die Hände und spreizte die Finger, so daß ihre beiden Ringe aufblitzten.
»Das lernt man, wenn man Arzt wird. Nicht während des Studiums - dort lernt man nichts -, sondern wenn man die Hände auf den Menschen legt und sich anmaßt, ihn zu heilen. Es gibt viele, denen man nicht helfen kann; andere kann man nicht erreichen, und die nächsten gleiten einem immer wieder durch die Finger. Aber man darf nicht darüber nachdenken. Statt dessen muß man seine ganze Kraft auf den richten, der vor einem liegt. Man muß sich so verhalten, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, denn sonst verliert man auch diesen noch. Immer nur einen auf einmal. Und dabei lernt man auch, nicht zu verzweifeln, weil man allen
anderen nicht helfen kann, sondern immer nur sein Möglichstes tun kann.«
Sie wandte sich Roger zu. Ihr Gesicht war vor Müdigkeit ganz eingefallen, doch ihre Augen schimmerten in der dunstigen Regenluft, und in ihren Locken hatten sich feine Tropfen gefangen. Unnachgiebig wie der Wind, der die Segel eines Bootes aufbläht und es vorantreibt, legte sie Roger die Hand auf den Arm.
»Gehen wir zurück ins Pfarrhaus, Roger«, sagte sie. »Ich muß ihnen noch etwas Wichtiges erzählen.«
Auf dem Rückweg schwieg sie und wich Rogers vorsichtigen Fragen aus. Sie lehnte es auch ab, sich bei ihm einzuhängen, und ging mit nachdenklich gesenktem Kopf. Aber Roger hatte nicht den Eindruck, daß sie einen Entschluß fassen wollte. Nein, der stand schon fest, sie schien zu überlegen, wie sie es sagen sollte.
Er selbst war voller Fragen. Immerhin ermöglichte ihm ihr Schweigen, sich vom Ansturm der Gefühle, den die Enthüllungen des Tages in ihm hervorgerufen hatten, zu erholen - und so kam ihm plötzlich die Frage, weshalb Claire auch ihn eingeweiht hatte. Hatte sie ihn dabeihaben wollen, weil sie Angst davor hatte, sich ihrer Tochter allein zu stellen? Oder hatte sie darauf gesetzt, daß er ihr glaubte - was er ja auch tat - und sie dadurch einen Verbündeten gewann, der für die Wahrheit eintrat - für ihre Wahrheit?
Als sie im Pfarrhaus eintrafen, konnte er seine Neugier kaum noch zügeln. Doch zunächst mußten sie sich mit einer anderen Aufgabe befassen. Gemeinsam räumten sie eines der größten Bücherregale leer und schoben es vor das zerbrochene Fenster, um die kühle Nachtluft auszusperren.
Rot vor Anstrengung ließ Claire sich aufs Sofa sinken, während Roger ihnen ein Glas Whisky einschenkte. Mrs. Graham hatte die Drinks immer auf einem Tablett serviert, auf dem neben einem Zierdeckchen auch Servietten und ein Teller mit passenden Keksen angeordnet waren. Hätte er es Fiona erlaubt, hätte sie sicher dasselbe getan, doch Roger zog es vor, sich seinen Whisky selbst einzuschenken.
Claire dankte ihm und nahm einen Schluck. Dann setzte sie das Glas ab und blickte ihn müde, aber gefaßt an.
»Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum Sie die ganze Geschichte
mit anhören sollten«, stellte sie mit jener nervenzermürbenden Gabe, die Gedanken ihrer Mitmenschen zu lesen, fest.
»Dafür gibt es zwei Gründe. Auf den zweiten komme ich gleich zu sprechen. Aber zuerst einmal fand ich, daß Sie ein Recht haben, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich? Welches Recht?«
Sie sah ihm in die Augen. »Das gleiche wie Brianna. Das Recht zu erfahren, woher Sie stammen.« Sie ging durch den Raum zur gegenüberliegenden Wand, die vom Boden bis zur Decke mit einer Korkplatte verkleidet war, auf die zahllose Schichten von Fotos, Tabellen, Notizen, Visitenkarten, alten Kirchplänen und anderem Sammelsurium geheftet waren.
»An diese Wand kann ich mich noch gut erinnern.« Claire lächelte und strich über ein Foto von der Zeugnisverleihung am hiesigen Gymnasium. »Hat Ihr Vater jemals etwas abgenommen?«
Roger schüttelte erstaunt den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Er hat immer gesagt, wenn er die Sachen erst einmal in einer Schublade verstaut, würde er sie niemals wiederfinden. Er wollte alles, was wichtig war, im Blickfeld behalten.«
»Dann ist es wohl noch hier. Denn für wichtig hielt er es bestimmt.«
Und so begann sie, die einzelnen Lagen zu durchblättern, wobei sie die vergilbten Papiere sorgsam voneinander löste.
»Hier ist es, glaube ich«, sagte sie, nachdem sie mehrmals vor-und zurückgeblättert hatte. Unter einer
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