Die Geliehene Zeit
Dougal hatte recht: Man ist leicht tapfer, wenn man in der warmen Stube über einem Glas Ale hockt. Der Alkohol hatte ihnen den Verstand umnebelt, und dann waren sie so gottverdammt stolz, daß sie um ihrer Ehre willen keinen Rückzieher machen wollten. Sie peitschten und bedrohten ihre Männer, schmeichelten ihnen, überredeten sie und trieben sie alle miteinander ins Verderben - und das einzig und allein um des Ruhmes und der Ehre willen.«
Sie schnaubte verächtlich und schwieg. Dann lachte sie überraschenderweise auf.
»Aber eins ist lustig. Diesem erbärmlichen, dummen Säufer, seinen habsüchtigen, beschränkten Handlangern und seinen dummen, ach so ehrbaren Kämpfern, die sich keinen Rückzug erlauben
wollten, ihnen allen muß man eins zugute halten: Sie haben an ihre Sache geglaubt. Und seltsamerweise ist es genau das, was überdauert hat. Ihre Dummheit, ihr Unvermögen, ihre Feigheit und trunksüchtige Prahlerei sind in Vergessenheit geraten. Geblieben ist von Charles Stuart und seinen Männern nur der Ruhm, den sie gesucht, aber nie gefunden haben.
Vielleicht hatte Maitre Raymond ja recht«, fuhr sie milder fort, »und es zählt einzig und allein die Essenz der Dinge. Die Zeit rafft alles andere dahin, und übrig bleibt nur das Skelett.«
»Vermutlich sind Sie dann auf Historiker nicht besonders gut zu sprechen«, meinte Roger, »besonders auf die Autoren, die Charles Stuart falsch dargestellt und aus ihm einen Helden gemacht haben. Schließlich findet man in den Highlands keinen Andenkenladen, in dem es nicht einen Kaffeebecher mit dem Porträt von Bonnie Prince Charles zu kaufen gibt.«
Geistesabwesend schüttelte sie den Kopf. Der Abendnebel wurde dichter, und von den Blättern fielen nun wieder Tropfen.
»Nicht die Historiker, nein. Ihnen kann man lediglich vorwerfen, daß sie mit dem Anspruch auftreten, sie wüßten, was damals geschehen ist. Dabei können sie sich nur auf das stützen, was die Vergangenheit überliefert sehen wollte. Die meisten denken, was sie denken sollen, und kaum einer blickt hinter die Nebelwand von historischen Funden und Dokumenten und sieht, was wirklich geschehen ist.«
Aus der Ferne ertönte ein leises Donnern. Der Nachtzug aus London, fiel Roger ein. In klaren Nächten hörte man ihn bis ins Pfarrhaus.
»Nein, Schuld haben die Künstler«, fuhr Claire fort. »Die Schriftsteller, die Bänkelsänger, die Geschichtenerzähler. Denn sie gestalten die Vergangenheit nach ihren Vorstellungen um. Sie nehmen einen Narren und machen ihn zum Helden. Sie nehmen einen Säufer und machen ihn zum König.«
»Sind sie denn allesamt Lügner?« fragte Roger. Claire zuckte die Achseln. Obwohl es kühl war, hatte sie ihre Jacke ausgezogen, und da ihre Bluse die Luftfeuchtigkeit aufgesogen hatte, zeichneten sich die schmalen Schulterblätter deutlich unter dem Stoff ab.
»Lügner«, fragte sie, »oder Zauberer? Sie sehen das Skelett im Staub und bekleiden es mit neuem Fleisch, so daß eine durchschnittliche Kreatur als Fabeltier wiederaufersteht.«
»Und was ist falsch daran?« fragte Roger. Ratternd überquerte der Flying Scotchman die Eisenbahnbrücke, so daß die Worte BEFREIT SCHOTTLAND unter seinen Rädern erbebten.
Claire blickte nach oben zu dem Schriftzug, und ihr Gesicht wurde vom blassen Licht der Sterne beschienen.
»Anscheinend haben Sie immer noch nicht verstanden, um was es geht, oder?« fragte sie. Obwohl sie verärgert klang, wurde ihre heisere Stimme nicht lauter als sonst.
»Sie wissen es nicht, und ich weiß es nicht, und wir werden es nie erfahren. Verstehen Sie? Man kann es nicht wissen, weil wir das Ende nicht kennen. Und es gibt kein Ende. Wir können nicht davon ausgehen, daß ein bestimmtes Ereignis einfach geschehen mußte und daß es alle anderen nach sich zog. Was Charles dem schottischen Volk angetan hat - war das eine historische Notwendigkeit? Oder mußte sich alles so abspielen, damit aus Charles das wurde, was er ist - eine Ikone, eine Leitfigur? Hätte Schottland ohne ihn die zweihundert Jahre Vereinigung mit England überstanden und trotzdem...«, sie wies auf die tanzenden Buchstaben über ihren Köpfen, »seine Eigenständigkeit bewahrt?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Roger laut. Das Donnern des Zuges übertönte jedes andere Geräusch.
Im Augenblick gab es nur noch das Rattern des Zuges, diesen ohrenbetäubenden Lärm, der sie auf der Stelle festnagelte. Dann war mit dem letzten Waggon auch das rote Schlußlicht in der Ferne
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