Die Geliehene Zeit
. Gewiß, Claire Randalls Geschichte klang überzeugend - schrecklich überzeugend. Doch wenn man beobachtete, wie sie diesen armen alten Tropf um den Finger wickelte, der wahre Gelehrsamkeit auch dann nicht erkennen würde, wenn man sie ihm
auf einem Silbertablett servierte, dann kam man ins Zweifeln. Sie hätten einem Eskimo eine Lieferung Kühlschränke aufschwatzen können. Gewiß, Roger war nicht so leicht zu täuschen wie Dr. McEwan, aber trotzdem.
Roger wurde so von Bedenken geplagt, daß er kaum mitbekam, wie Dr. McEwan einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade holte und sie auf einen langen Flur geleitete, in dem sich eine Tür an die andere reihte.
»Studierzimmer«, erklärte der Direktor und öffnete eine der Türen. Vor ihnen lag ein kaum zwei Quadratmeter großer Verschlag, in den ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein schmales Bücherregal gezwängt waren. Auf dem Tisch lag ein Stapel bunter Aktendeckel, daneben ein großes graues Notizbuch mit der säuberlichen Aufschrift VERSCHIEDENES.
Die Sache wurde immer persönlicher. Zuerst die Fotos und nun ihre Handschrift. Panik überfiel ihn bei der Vorstellung, Geillis Duncan tatsächlich zu treffen. Das hieß, Gillian Edgars. Oder wen auch immer.
Der Direktor schlug einige der Mappen auf und erklärte Claire, worum es sich bei dem jeweiligen Projekt handelte. Claire gab sich äußerst erfolgreich den Anschein, sie sei mit den Themen vertraut. Roger, der ihr über die Schulter blickte, gab gelegentlich ein »Hmm!« oder »Sehr interessant!« zum besten. Doch was in der schwungvollen Schrift dort festgehalten war, nahm er nicht in sich auf.
Das hat sie geschrieben , dachte er. Sie ist ein Wesen aus Fleisch und Blut mit schönen Lippen und langen blonden Haaren . Wenn sie durch den Steinkreis in die Vergangenheit geht, wird sie verbrennen. Und wenn sie nicht geht, dann... dann gibt es mich nicht.
Heftig schüttelte er den Kopf.
»Sind Sie anderer Meinung, Mr. Wakefield?« Der Direktor blickte ihn verwundert an.
Jetzt schüttelte Roger den Kopf, weil es ihm peinlich war.
»Nein, nein... ganz und gar nicht... hätten Sie vielleicht einen Schluck Wasser?«
»Aber selbstverständlich. Kommen Sie. Hier um die Ecke ist gleich ein Trinkbrunnen. Ich zeige es Ihnen.« Mit Worten, die seine lebhafte Anteilnahme an Rogers Gesundheitszustand ausdrücken sollten, führte ihn der Direktor aus dem Zimmerchen.
Sobald er der Enge des Studierzimmers und der Nähe von Gillian Edgars’ Büchern und Mappen entronnen war, ging es Roger ein wenig besser. Dennoch hätte ihn nichts auf der Welt in den winzigen Raum zurückgebracht. Roger faßte einen Entschluß. Sollte sich Claire allein mit Dr. McEwan abplagen. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, ging er zu der Tür, die zum Empfangsraum führte.
Neugierig und besorgt funkelte Mrs. Andrews ihn an, als er hereinkam.
»Du meine Güte, Mr. Wakefield! Geht es Ihnen nicht gut?« Roger fuhr sich übers Gesicht. Anscheinend sah man ihm an, wie er sich fühlte. Matt lächelte er der rundlichen Sekretärin zu.
»Doch, doch, danke. Mir ist da drinnen nur ein wenig heiß geworden, und deshalb wollte ich frische Luft schnappen gehen.«
»Aye, natürlich.« Sie nickte verständnisvoll. »Die Heizungsluft. Manchmal setzt das Thermostat aus, und dann schalten sich die Heizkörper nicht ab. Am besten sehe ich gleich mal nach.« Sie stand auf. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto von Gillian Edgars, das auf dem Schreibtisch lag.
»Ist das nicht seltsam?« sagte sie im Plauderton. »Da habe ich mir gerade dieses Bild angesehen und mich gefragt, an wen sie mich erinnert, aber es wollte mir nicht einfallen. Und jetzt merke ich, daß sie Ihnen ähnelt, Mr. Wakefield, besonders um die Augen. Ist das nicht ein Zufall?« Doch Roger polterte schon die Treppe hinunter.
»Gerade noch rechtzeitig, fürchte ich«, murmelte sie freundlich. »Armer Kerl.«
Als Claire wieder zu ihm stieß, war es bereits später Nachmittag. Die Menschen befanden sich auf dem Heimweg, und in der Luft lag Feierabendstimmung.
Roger wurde jedoch von anderen Empfindungen bewegt. Als er ausstieg, um Claire die Autotür aufzuhalten, tobten in ihm derart widersprüchliche Gefühle, daß er nicht wußte, was er zuerst sagen sollte. Sie stieg ein und blickte ihn mitfühlend an.
»Ein bißchen viel auf einmal, nicht wahr?« Mehr sagte sie nicht.
Durch ein ausgefeiltes Netz von Einbahnstraßen war das Durchqueren des Stadtzentrums zu einer Aufgabe geworden, die
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