Die Geliehene Zeit
straffte die Schultern, wandte sich jedoch nicht um.
Zu Rogers Erstaunen war es wirklich ein Kinderspiel. Zwar hätte er nicht sagen können, ob es an Claires schauspielerischem Talent oder an Dr. McEwans Zerstreutheit lag, aber ihre Mission wurde problemlos akzeptiert. Es schien dem Mann nicht in den Sinn zu kommen, daß es für Talentsucher aus Oxford reichlich ungewöhnlich war, das abgelegene Inverness aufzusuchen, um sich nach den Fähigkeiten einer potentiellen Stipendiatin zu erkundigen. Doch zu Dr. McEwans Entschuldigung ließe sich anführen, daß ihn irgend etwas sehr zu beschäftigen schien und er deshalb nicht ganz Herr seiner Gedanken war.
»Nun... ja, fraglos verfügt Mrs. Edgars über eine hohe Intelligenz. Eine sehr hohe«, verbesserte sich der Direktor, als wollte er sich selbst davon überzeugen. Er war groß, kräftig gebaut und hatte eine lange Oberlippe, die an ein Kamel erinnerte und wabbelte, während er unsicher nach Worten suchte. »Hat sie... haben Sie... ich meine...« Er zog die Lippe hoch, und seine Worte erstarben. »Haben Sie Mrs. Edgars eigentlich schon kennengelernt?« platzte er schließlich heraus.
»Nein«, erklärte Roger, während er Dr. McEwan ernst ins Auge faßte. »Deshalb wollten wir ja wissen, was Sie von ihr halten.«
»Gibt es vielleicht etwas...« Claire machte eine einladende Pause, »was die Kommission Ihrer Meinung nach wissen sollte, Dr. McEwan?« Erwartungsvoll beugte sie sich vor. »Erkundigungen wie diese werden hundertprozentig vertraulich behandelt. Es ist so wichtig, daß wir uns ein umfassendes Bild von den Bewerbern machen können. Schließlich ist eine solche Entscheidung mit großer Verantwortung verbunden.« Vertraulich senkte sie die Stimme. »Das Ministerium, wissen Sie.«
Roger hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht, doch Dr. McEwan nickte weise.
»O ja, natürlich. Das Ministerium. Ja, ich verstehe voll und ganz. Nun, ich... es wäre mir furchtbar unangenehm, wenn ich Sie in irgendeiner Hinsicht in die Irre führen würde. Zweifellos ist es eine wunderbare Chance...«
Nun hätte Roger am liebsten beide an der Gurgel gepackt. Aber augenscheinlich merkte Claire, wie seine Hände zuckten, denn sie schob dem Gestammel des Direktors resolut einen Riegel vor.
»Uns interessieren vor allem zwei Dinge«, erklärte sie unumwunden, holte ihr Notizbuch aus der Tasche, schlug es auf und legte es
sich auf die Knie. Eine Flasche Sherry für Mrs. T. kaufen, las Roger aus den Augenwinkeln. Schinkenaufschnitt fürs Picknick.
»Zunächst einmal möchten wir wissen, wie Sie Mrs. Edgars’ Fähigkeiten beurteilen, und zweitens würden wir gern Ihre Meinung über ihre Persönlichkeit hören. Zum ersten Punkt haben wir uns natürlich schon ein Urteil gebildet«, sie klopfte mit dem Stift auf eine Stelle in ihrem Notizbuch, wo Reiseschecks einwechseln stand, »aber Sie können das sicher weitaus besser einschätzen.« Dr. McEwan, der unentwegt nickte, sah Claire wie gebannt an.
»Nun...« Er blickte prüfend zur Tür, um sicherzugehen, daß sie geschlossen war, bevor er sich vorbeugte und vertraulich die Stimme senkte. »Was die Qualität ihrer Arbeit betrifft, kann ich Sie voll und ganz beruhigen. Ich zeige Ihnen gleich ein paar Proben. Die andere Sache hingegen...« Roger, der befürchtete, er könnte wieder zu stammeln beginnen, richtete sich bedrohlich auf.
Dr. McEwan ließ sich verwundert zurücksinken. »Viel ist es eigentlich nicht«, setzte er an. »Nur... sie stürzt sich mit solchem Feuereifer in die Arbeit, daß man schon fast sagen könnte, sie sei... besessen?« Fragend hob sich seine Stimme.
»Konzentriert sich dieser Feuereifer vielleicht zufällig auf Steinkreise?« schlug Claire sanft vor.
»Oh, hat sie das in ihren Antrag geschrieben?« Der Direktor förderte ein riesiges, schmuddeliges Taschentuch zutage und wischte sich damit übers Gesicht. »Ja, Sie haben recht. Natürlich begeistern sich viele Leute für dieses Gebiet«, fügte er entschuldigend hinzu. »Sie finden es nun mal romantisch und rätselhaft. Sehen Sie sich doch nur diese unbedarften Geschöpfe an, die sich in der Mittsommernacht in Stonehenge versammeln und Zauberformeln aufsagen! Natürlich möchte ich Gillian Edgars nicht mit ihnen vergleichen...«
In diesem Sinne ging es weiter, doch Roger hörte nicht mehr zu. Die Luft war stickig in dem kleinen Büro, und sein Kragen war ihm plötzlich zu eng geworden.
Das kann doch nicht wahr sein , dachte er. Schlichtweg unmöglich
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