Die Geliehene Zeit
erkennbare Pulsschlag an ihrem Hals. Nein. Einen Moment lang konnte er sich vielleicht einreden, daß es Einbildung war, aber nur solange er sie nicht ansah. So gern er auch geglaubt hätte, daß ihre Geschichte frei erfunden war, wenn er sie anblickte, konnte er kein einziges Wort anzweifeln.
Er breitete die Hände auf der Tischplatte aus und betrachtete sie. Hatte er nur sein eigenes Schicksal in der Hand oder auch das einer Frau, die er noch nicht kennengelernt hatte?
Keine Antworten. Langsam schloß er die Hände zu Fäusten, als würde er einen kostbaren Gegenstand darin bergen. Dann traf er seine Entscheidung.
»Machen wir uns auf die Suche«, sagte er.
Von der reglosen Gestalt im Ohrensessel kam keine Antwort. Nur ihre runde Brust hob und senkte sich. Claire war eingeschlafen.
48
Hexenjagd
Irgendwo in der Wohnung schnarrte eine altmodische Klingel. Das Haus lag nicht gerade im besten Teil der Stadt, aber der schlimmste war es auch nicht. Arbeiterhäuser mit jeweils zwei, drei Wohnungen. Unter dem Klingelschild stand in Handschrift MCHENRY I. STOCK - ZWEIMAL KLINGELN. Roger drückte deutlich ein zweitesmal auf den Knopf, dann wischte er sich die schweißnassen Hände an der Hose ab.
Neben dem Eingang stand ein Topf mit gelben, halbvertrockneten Narzissen. Die Spitzen der sichelförmigen Blätter waren gelb und zusammengerollt, und die zarten gelben Blüten ließen traurig den Kopf hängen.
Claire betrachtete sie gleichfalls. »Vielleicht ist niemand zu Hause«, sagte sie und blieb stehen, um die knochentrockene Erde im Blumentopf zu befühlen. »Die haben seit über einer Woche kein Wasser mehr bekommen.«
Roger verspürte eine gewisse Erleichterung. Ob Geillis Duncan nun Gillian Edgars war oder nicht - er hatte sich auf diesen Besuch nicht unbedingt gefreut. Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als die Tür mit einem lauten Quietschen aufgerissen wurde.
»Aye?« Der Mann, der sie aus geschwollenen Augen anblickte, hatte ein rotes Gesicht und Bartstoppeln.
»Es... es tut uns leid, Sie gestört zu haben«, sagte Roger, während er sich innerlich zur Ruhe mahnte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Wir suchen Miss Gillian Edgars. Wohnt sie hier?«
Der Mann fuhr sich mit seiner dicken, schwarzbehaarten Hand über den Kopf.
»Für dich immer noch Mrs. Edgars, Milchgesicht! Was wollen Sie von meiner Frau?« Als ihm die Alkoholfahne entgegenschlug, wäre Roger am liebsten zurückgewichen.
»Wir wollen nur mit ihr sprechen«, erklärte er beschwichtigend. »Ist sie zu Hause?«
»Ist sie zu Hause?« echote der Mann, wohl Mr. Edgars, Rogers Oxfordakzent nachäffend. »Nein, sie ist nicht da. Schert euch zum Teufel!« Er schlug die Tür mit einer solchen Wucht zu, daß die Spitzenvorhänge erbebten.
»Ich kann sie gut verstehen«, bemerkte Claire, die sich auf Zehenspitzen gestellt hatte und durch die Fenster ins Haus spähte. »Wenn so ein Kerl auf mich warten würde, wäre ich auch nicht daheim.«
»Stimmt«, gab Roger ihr recht. »Das wär’s dann wohl. Oder haben Sie einen anderen Vorschlag, wie wir die Frau finden können?«
Claire trat vom Fenster zurück.
»Er hat sich vor den Fernseher gehockt«, berichtete sie. »Lassen wir ihm seine Ruhe, wenigstens bis die Pubs wieder geöffnet haben. In der Zwischenzeit können wir es im Institut versuchen. Fiona hat mir erzählt, daß Gillian Edgars dort Kurse belegt hat.«
Das Institut für Volkskunde der Highlands befand sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes, das ans Geschäftsviertel der Stadt angrenzte. Die Empfangsdame, eine kleine, rundliche Frau in Blümchenkleid und brauner Strickjacke, schien entzückt, sie zu sehen. Wahrscheinlich, weil sie dort oben nicht oft Gesellschaft hatte, vermutete Roger.
»Oh, Mrs. Edgars«, säuselte sie, als sie ihr Anliegen vorgetragen hatten. Roger meinte, Mißtrauen in Mrs. Andrews’ Stimme zu hören, doch sie blieb freundlich und fröhlich.»Ja«, sagte sie, »Mrs. Edgars besucht unsere Kurse regelmäßig und hat ihre Gebühren stets bezahlt. Sie verbringt viel Zeit hier bei uns.« Weitaus mehr, als Mrs. Andrews lieb war, ihrem Tonfall nach zu urteilen.
»Ist sie vielleicht zufällig gerade da?« erkundigte sich Claire.
Mrs. Andrews schüttelte den Kopf, so daß ihre graumelierten Löckchen tanzten.
»Nein«, erwiderte sie, »heute ist Montag, und da bin ich mit Dr. McEwan allein. Das ist unser Direktor.« Sie bedachte Roger mit einem vorwurfsvollen Blick, als hätte der das nun wirklich
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