Die Geliehene Zeit
gestillt werden. Eine Woche später stand Jamie in kalter, dunkler Nacht auf und kleidete sich für die lange Fahrt nach Versailles an, um dem Lever des Königs beizuwohnen. Louis erwachte jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr. Die Auserwählten, die an seiner Morgentoilette teilhaben durften, sollten sich um diese Zeit im Vorzimmer versammeln und sich in die Prozession der Adeligen und Diener einreihen, die den König bei der Begrüßung des neuen Tages unterstützten.
Nachdem Jamie von Magnus, dem Butler, geweckt worden war, stieg er schlaftrunken aus dem Bett und machte sich gähnend und brummend fertig. Zu dieser Tageszeit verhielten sich meine Eingeweide noch manierlich, und ich genoß das wundervolle Gefühl, das einen erfaßt, wenn jemand anders eine unangenehme Pflicht erledigen muß, mit der man selbst nichts zu tun hat.
»Sieh dir alles genau an«, wies ich ihn an, die Stimme noch heiser vom Schlaf, »damit du mir berichten kannst.«
Mit zustimmendem Grunzen beugte er sich zu mir herab und küßte mich. Dann trottete er, die Kerze in der Hand, davon, um das Pferd satteln zu lassen. Bevor ich mich wieder dem Schlaf hingab, vernahm ich aus dem Erdgeschoß seine plötzlich klar und wach klingende Stimme, als er sich vom Stallburschen verabschiedete.
Aufgrund der Entfernung zu Versailles und der von Jared bereits angedeuteten Aussicht, zum Essen eingeladen zu werden, überraschte es mich nicht, als er zum Mittagessen noch nicht da war. Aber ich war neugierig und konnte meine Ungeduld kaum zügeln, bis Jamie nachmittags endlich auftauchte.
»Wie war das Lever des Königs?« erkundigte ich mich und trat auf ihn zu, um ihm beim Ausziehen des Rockes zur Hand zu gehen. Mit den engen Handschuhen aus Schweinsleder, die bei Hof de rigueur waren, ließen sich die verzierten Silberknöpfe auf dem glatten Samt nicht öffnen.
»Ah, das ist schon besser«, seufzte er und dehnte erleichtert die Schultern, als die Knöpfe aufsprangen. Da ihm dieses Gewand viel zu eng war, mußte ich Jamie wie ein Ei aus der Schale pellen.
»Interessant, Sassenach«, beantwortete er meine Frage. »Zumindest was die erste Stunde betrifft.«
Nachdem der Zug der Adeligen das königliche Schlafgemach betreten hatte, jeder mit seiner für das Zeremoniell notwendigen Gerätschaft ausgestattet - Handtuch, Rasiermesser, Becher, königliches Siegel und ähnliches mehr -, zogen die Kammerherren die schweren Vorhänge zurück, welche die Morgendämmerung abschirmten, entfernten die Draperien von dem breiten Staatsbett und boten der aufgehenden Sonne das Gesicht des roi Louis dar.
Nachdem man dem König aufgeholfen hatte und er an der Bettkante saß, gähnte er und kratzte sich das stoppelige Kinn, während seine Kammerherren eine seidene Robe mit schwerer Silber- und Goldstickerei um die königlichen Schultern legten. Anschließend knieten sie nieder, streiften ihm die dicken Filzsocken, in denen er zu schlafen pflegte, von den Füßen und ersetzten sie durch eine Strumpfhose aus zarter Seide und weichen, mit Kaninchenfell gefütterten Pantoffeln.
Die Adeligen traten nacheinander heran und knieten zu Füßen ihres Monarchen nieder, begrüßten ihn ehrerbietig und erkundigten sich, wie Seine Majestät die Nacht verbracht hatte.
»Nicht so gut, würde ich meinen«, unterbrach Jamie seine Betrachtungen. »Er sah aus, als hätte er höchstens ein, zwei Stunden geschlafen und dabei auch noch böse Träume gehabt.«
Trotz blutunterlaufener Augen und Tränensäcken nickte Seine Majestät den Höflingen huldvoll zu, erhob sich bedächtig und verneigte sich vor jenen erlesenen Gästen, die sich am anderen Ende des Schlafgemachs befanden. Eine müde Handbewegung rief einen Kammerherren herbei, der Seine Majestät zu dem Frisierstuhl geleitete. Mit geschlossenen Augen ließ er sich darauf nieder und genoß die Pflege seines Gefolges, während der Duc d’Orléans jeden Besucher einzeln zu ihm führte, damit er sich vor den König hinknien und einige Worte der Begrüßung sagen konnte. Förmliche Anliegen mußten noch warten, bis der König etwas wacher war und sie aufnehmen konnte.
»Ich hatte kein Anliegen, sondern war nur als Günstling geladen«, erklärte Jamie. »Also kniete ich mich vor ihn hin und sagte >Guten Morgen, Eure Majestät‹, während der Duc ihn darüber aufklärte, wer ich war.«
»Hat dich der König angesprochen?« fragte ich.
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, grinste Jamie und streckte sich. »Aye. Er öffnete ein Auge
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