Die Geliehene Zeit
Monogramm und Datum von 1780.«
Das Gemälde zeigte einen Mann mit rundlichem Gesicht. Seine rosigen Lippen waren geschürzt - die typische, förmlichen Pose der Porträts des achtzehnten Jahrhunderts.
»Wir kennen die Künstler«, fuhr Frank fort und legte das Porträt weg. »Entweder haben sie ihre Bilder signiert, oder wir finden in ihrer Technik und dem gewählten Sujet Hinweise auf ihre Identität. Aber wie steht es mit den Personen, die sie gemalt haben? Wir sehen sie zwar, doch wir wissen nichts von ihnen. Die merkwürdigen Frisuren, die seltsame Kleidung - wohl kaum Leute aus Ihrem Bekanntenkreis, stimmt’s? Und obwohl sie von so vielen verschiedenen Künstlern gemalt worden sind, sehen die Gesichter alle gleich aus. Meistens bleiche Vollmondgesichter, und recht viel mehr läßt sich nicht über sie sagen. Gelegentlich gibt es Ausnahmen...« Er griff nach einem weiteren ovalen Bild aus der Sammlung.
»Ein Herr...«
Als Frank das Porträt hochhielt, funkelten mir Jamies blaue Augen unter dem feuerroten Haar entgegen, das gekämmt, geflochten und mit Bändern geschmückt ungewöhnlich förmlich aussah. Über den Spitzen seiner Halsbinde ragte kühn die schmale Nase, und der breite Mund schien im Begriff zu sprechen.
»Aber es waren tatsächlich reale Menschen«, beharrte Frank. »Sie taten größtenteils das gleiche wie Sie heute - abgesehen von ein paar Kleinigkeiten wie Kinobesuchen und Autofahrten.« Seine Bemerkung fand kichernde Resonanz im Saal. »Aber sie haben sich um ihre Kinder gesorgt, ihre Ehemänner oder -frauen geliebt... na ja, vielleicht nicht immer...« Wieder Gelächter.
»Eine Dame«, sagte er dann leise und hielt das letzte der Porträts in beiden Händen, als zögerte er, es den Blicken preiszugeben. »Mit üppigem braunen Lockenhaar und einer Perlenkette. Ohne Datum. Künstler unbekannt.«
Es war ein Spiegel, kein Porträt. Meine Wangen erröteten, meine Lippen zitterten, als Franks Finger sachte mein Kinn und die anmutigen Konturen meines Halses nachzeichnete. Tränen traten mir in die Augen und liefen über meine Wangen, während ich seine dozierende Stimme vernahm. Dann legte er das Bild weg. Ich hob den Blick zu der Holzdecke.
»Ohne Datum, unbekannt. Doch irgendwann einmal... irgendwann hat sie tatsächlich gelebt.«
Ich rang nach Atem und dachte erst, das Glas vor dem Bildnis würde mich ersticken. Doch es war etwas Weiches und Feuchtes, was sich gegen meine Nase drückte, und als ich den Kopf zur Seite drehte, wachte ich auf. Das Leinenkissen unter meinem Kopf war tränennaß. Auf meiner Schulter lag Jamies große, warme Hand und schüttelte mich leicht.
»Ruhig, Mädel, ganz ruhig. Du hast nur geträumt - ich bin doch bei dir.«
Ich vergrub mein tränennasses Gesicht in der Wärme seiner bloßen Schulter. Während ich mich fest an seinen kräftigen Körper schmiegte, drangen die leisen nächtlichen Geräusche des Pariser Hauses an mein Ohr und riefen mir in Erinnerung, wo ich mich befand.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich habe geträumt - von...«
Er tätschelte meinen Rücken und suchte unter dem Kissen nach einem Taschentuch.
»Ich weiß. Du hast seinen Namen gerufen.« Es klang resigniert.
Ich ließ den Kopf wieder an seine Schulter sinken, Jamie roch nach heimeliger Wärme, der Schlafgeruch seines Körpers vermischte sich mit dem der Daunendecke und der frischen Laken.
»Es tut mir leid«, sagte ich abermals.
Er gab ein kurzes Schnauben von sich, das nur entfernt einem Lachen ähnelte.
»Nun, ich kann nicht leugnen, daß ich wahnsinnig eifersüchtig auf den Mann bin«, erklärte er reuevoll. »Aber ich kann ihm ja schlecht deine Träume zum Vorwurf machen. Oder deine Tränen.« Sein Finger folgte einem kleinen Tränenrinnsal an meiner Wange, dann trocknete er es mit dem Taschentuch.
»Nein?«
Im Dämmerlicht konnte ich ein schiefes Lächeln erkennen.
»Nein. Du hast ihn geliebt. Ich kann es keinem von euch verübeln, um den anderen zu trauern. Und ich finde es tröstlich zu wissen...«
Als er zögerte, strich ich ihm das zerzauste Haar aus der Stirn und fragte: »Was zu wissen?«
»Daß du, falls es jemals soweit kommen sollte, in gleicher Weise um mich trauern wirst«, antwortete er leise.
Ich preßte mein Gesicht so fest gegen seine Brust, daß meine Worte gedämpft klangen.
»Ich werde nicht um dich trauern, weil ich keinen Grund dazu haben werde. Ich werde dich nie verlieren, niemals!« Da schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und ich
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