Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
Vom Netzwerk:
noch mit »ma chère Claire« an.
    Die Prinzessin beehrte gerade die Gesangsgruppe im Musikzimmer durch ihre Anwesenheit. Lachend und plaudernd flatterte sie von einem zum anderen Gast. Als sie mich erblickte, stürmte sie auf mich zu, so schnell es ihre Gewänder zuließen. Ihr Gesicht sprühte vor Energie.
    »Ma chère Claire!« rief sie und nahm mich ohne Rücksicht auf Herrn Gerstmann sofort in Beschlag. »Sie kommen gerade recht! Kommen Sie, tun Sie mir einen Gefallen und reden Sie mit diesem närrischen englischen Kind.«
    Das »närrische englische Kind« war in der Tat sehr jung: ein Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren mit dunklen, glänzenden Ringellocken. Sie war so verlegen, daß ihr Kopf hochrot glühte und ich an eine leuchtende Mohnblume denken mußte. An ihren Wangen erkannte ich sie wieder - sie war das Mädchen, das ich im Garten von Versailles gesehen hatte, kurz vor dem beunruhigenden Erscheinen von Alexander Randall.
    »Madame Fraser ist auch Engländerin«, erklärte Louise dem Mädchen. »In ihrer Gesellschaft werden Sie sich bald wie zu Hause fühlen.« Louise drehte sich zu mir um und fuhr im selben Atemzug
fort: »Sie ist ein wenig schüchtern. Unterhalten Sie sich mit ihr und überreden Sie sie, mit uns zu singen. Man hat mir versichert, sie habe eine ganz herrliche Stimme. Also, mes enfants, amüsieren Sie sich gut!« Und nachdem sie uns ihren Segen in Form eines Klapses erteilt hatte, entschwand sie zum anderen Ende des Zimmers, wo sie mit schmeichelnder Bewunderung das Kleid einer neuangekommenen Dame inspizierte, dann den übergewichtigen Knaben am Cembalo tätschelte und mit seinem Lockenhaar spielte, während sie den Duca di Castellotti in einen Plausch verwickelte.
    »Es ist schon anstrengend, ihr bloß zuzusehen, finden Sie nicht?« sagte ich auf englisch und blickte das Mädchen freundlich an. Um ihre Lippen spielte ein schwaches Lächeln, als sie kurz nickte. Sie sagte nichts. Ich überlegte, daß sie von alldem völlig überwältigt sein mußte; bei Louises Festen wußte ich selbst oft nicht, wo mir der Kopf stand, und das kleine Rotbäckchen war bestimmt gerade erst der Schulbank entronnen.
    »Ich heiße Claire Fraser«, sagte ich, »aber Louise hat wohl vergessen, mir Ihren Namen zu verraten.« Ich hielt inne, aber es kam keine Antwort. Ihr Gesicht wurde immer röter, die Lippen waren zusammengepreßt, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Das beunruhigte mich ein wenig, doch schließlich rang sie sich zum Sprechen durch. Nach einem tiefen Atemzug reckte sie das Kinn, als wollte sie hocherhobenen Hauptes das Schafott besteigen.
    »I-i-ich h-heiße... M-M-M...«, fing sie an, und plötzlich begriff ich, warum sie so schweigsam und schüchtern war. Sie schloß die Augen, biß sich auf die Unterlippe, dann setzte sie mutig zu einem neuen Versuch an: »M-M-Mary Hawkins«, brachte sie schließlich hervor. »Ich s-singe nicht«, fügte sie trotzig hinzu.
    Hatte ich sie zuvor schon interessant gefunden, so war ich jetzt von ihr fasziniert. Das war also die Nichte von Silas Hawkins, die Tochter des Baronets, die den Vicomte de Marigny heiraten sollte! Es schien mir eine ziemlich schwere Bürde für ein so junges Mädchen, den hohen Erwartungen der Männerwelt gerecht zu werden. Ich blickte mich nach dem Vicomte um, doch zu meiner Erleichterung war er außer Sichtweite.
    »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, sagte ich und trat vor sie hin, um sie vor den Leuten abzuschirmen, die in das Musikzimmer strömten. »Sie müssen nicht sprechen, wenn Sie nicht wollen. Aber vielleicht sollten Sie es mit Singen versuchen«, meinte ich,
einer plötzlichen Eingebung folgend. »Ich kannte einmal einen Arzt, der sich auf die Behandlung von Stotterern spezialisiert hat; er sagte, beim Singen stottern sie nicht.«
    Mit weitaufgerissenen Augen nahm Mary Hawkins diese erstaunliche Neuigkeit auf. Ich sah mich um und entdeckte gleich in der Nähe einen Alkoven mit einem Vorhang, hinter dem sich eine bequeme Bank verbarg.
    »Kommen Sie«, sagte ich und nahm sie bei der Hand. »Setzen Sie sich hier rein, dann müssen Sie nicht mit den Leuten reden. Wenn Sie mitsingen wollen, kommen Sie raus, wenn wir anfangen; sonst bleiben Sie einfach drin, bis das Fest vorbei ist.« Einen Augenblick lang starrte sie mich an, dann schenkte sie mir plötzlich ein strahlendes Lächeln voller Dankbarkeit und huschte in den Alkoven.
    Ich hielt unauffällig davor Wache, damit kein neugieriger Diener sie störte, und

Weitere Kostenlose Bücher