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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ohne den Gonzo manchmal über eine menschliche Schwäche oder einen verdeckten Fehler straucheln würde. Gonzos praktische Seite, seine bessere Hälfte.
    Doyle, der Foyle genannt wird, und der, wenn ich meine Erinnerung bemühe und an seine Namensschilder denke, vielleicht Tucker hieß, hält sich also einen langen Stab vor die Brust und klemmt ihn unter dem Kinn ein wie eine Geige. Dann wickelt er etwas Bindfaden darum und befestigt einen zweiten Stab daran, bis die beiden ein großes V bilden. Zusammen mit weiteren Stäben, die ähnlich verbunden werden müssen, bilden sie die Grundlage eines flexiblen Damms, einer Art Halle für das Wasser. Das Wasser strömt hindurch, aber an den Stäben wird Dreck und alles mögliche Zeugs hangen bleiben, und mit der Zeit entsteht auf diese Weise ein echtes Hindernis, hinter dem sich ein kleiner Teich aufstaut. Tucker Foyle (jetzt bin ich ziemlich sicher, dass dies sein Name ist) grinst und wickelt und plappert die ganze Zeit. Dann passiert etwas zugleich sehr Eigenartiges und sehr Übles.
    Ein gesprenkeltes Licht schießt über die freie Fläche, auf der wir arbeiten, und einen kleinen Augenblick lang sind wir im Krieg.
    Lidschlag: ein sonniger Tag, Männer arbeiten ruhig und konzentriert.
    Lidschlag: Dunkelheit und Schreie, der Geruch von Pulver und blutigen Hinrichtungen, etwas zischt vorbei, eine heulende Wespe. Eine Werwespe. Sie fliegt an mir vorbei und landet auf Tucker Foyle.
    Lidschlag: ein sonniger Tag, Männer halten inne und reiben sich die Augen. Möglicherweise ein Flashback von früheren Kämpfen. Nicht sehr männlich vielleicht, aber auch nicht gefährlich. Dann die langsame, demütigende Erkenntnis – es hat uns alle getroffen. Wir lachen beruhigt und wenden uns an die anderen, um sie am Scherz teilhaben zu lassen. Gelächter zeigt, dass man die Kontrolle hat. Säugetiere, aufgepasst! Wir erobern die Welt. Es gibt keine Schatten, nur uns.
    Tucker Foyle rutscht an seinem Rundholz entlang langsam nach vorn. Er hat in Schulterhöhe eine Schusswunde im Rücken. Das wäre für sich genommen noch nicht so schlimm, aber der Einschlag hat ihn gegen den spitzen Pfahl geworfen, der direkt vor ihm stand. Tucker wurde gepfählt. Er ist noch nicht tot und wird erst in einigen Minuten sterben. Aber sterben wird er ganz sicher. Wir können nichts mehr für ihn tun.
    Wieder das Gesprenkel. Es kommt aus der gleichen Richtung, und dieses Mal kann ich es erkennen. Es rast über das Gelände und bringt Geräusche mit sich, wie von sich näherndem Beschuss. Es ist ein etwa vier Meter tiefer und zwanzig oder dreißig Meter breiter dunkler Streifen. Ringsherum geht das halbwegs normale Leben weiter. Im Schatten bricht die Hölle los. Männer ducken sich, werfen sich auf den Boden oder sterben dort, wo sie gerade stehen. Als die Erscheinung vorüber ist, richten sie sich wieder auf, kommen aus der Deckung und haben Angst.
    Der Schatten umfängt uns, die Welt verändert sich. Zuerst bemerke ich es mit der Nase: der Geruch der namenlosen Stadt, in der ich in die Luft gesprengt wurde. Zerstäubtes Blut schwebt in der Luft, es riecht nach Leuten, die die Kontrolle über ihre Blase verloren haben, nach Waffenfeuer und Diesel. Der Geruch des Schlachtfelds. Ich liege schon auf dem Boden, was gut ist, weil immer mehr Wespen vorbeisummen. Jetzt kann ich sie auch verfolgen. Sie kommen von einem Rand des Gesprenkels und verschwinden auf der anderen Seite. Von drinnen kann man nicht gut nach draußen schauen. Nebel und Rauch, Geschrei und Kreischen – viel zu viel für diesen kleinen Raum. Das ist ein Stück von woanders, das hierher über uns gelegt wird, auch wenn sich dieser Ort hier offensichtlich nicht verändert. Ich bin nicht an einen anderen Ort versetzt worden. Die Welt ringsherum hat sich verändert.
    Aus dem Nebel stolpert ein sterbender Soldat. Er trägt keine Uniform, die ich erkenne. Ein Durcheinander zwischen den USA aus dem Zweiten Weltkrieg und den Briten aus dem Ersten Weltkrieg, dazu ein paar Einsprengsel aus Vietnam und Gallipoli. Grüne Hosen mit Hosenträgern, die ihm jedoch von den Schultern gerutscht sind. Er trägt kein Hemd, sondern nur Unterwäsche. Seinen Helm hat er noch, der aber für diesen Krieg nicht die richtige Form hat. Er ist aus Stahl. Vielleicht gehört er zu einer Söldnertruppe, aber er ist sicher keiner von Vasilles Männern. Die Franzosen sind besser ausgerüstet. Fragen kann ich ihn jedenfalls nicht, denn er hat einen Schuss in den Mund bekommen. Er

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