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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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beleidigt), der sein Hemd herunterreißt, um den Lärm zu dämpfen, und in ungefähr einer Minute mit kräftigen Schlägen das Seil von der Wand gelöst hat. Jetzt sind alle frei, wenn auch unbewaffnet und mit Handschellen gefesselt. Ich berichte von der orangefarbenen Person. Zehn? Zehn was? Minuten, meint Gonzo. Tobemory Trent legt Egon auf den Boden und kümmert sich zusammen mit Leah so gut er kann um meine Hand. Sie bauen mir aus meinem Hemd eine Schlinge. Leahs warme Finger gleiten über meine Brust, und ich bitte sie, eine Hand auf mein Auge zu legen. Es hilft. Dann halten wir einen kurzen Kriegsrat ab und nehmen abwechselnd Egon in die Arme, der zittert und Zuwendung braucht. Wir lassen niemanden zurück, körperlich nicht und seelisch auch nicht, denn wir sind, was wir sind – und so soll es auch bleiben. Tobemory Trent geht rundherum und zerstört die Handschellen.
    Bestandsaufnahme: ein Drahtseil, ein Hammer, zwei Metalldorne. Eine gereizte, aber unbewaffnete Spezialeinheit. Drei medizinische Spezialisten, ein Offizier aus der Etappe, diverse Rekruten mit so einfachen Fähigkeiten wie Autofahren, Lagerbauen und Leuteerstechen. Gonzo deutet zur Wand. Er hält einen Dorn dagegen, und Jim Hepsobah holt aus. Ein Stein rutscht heraus. Noch einmal und noch einmal … etwas Licht fällt herein. Dieser Raum ist nicht besonders stabil gebaut. Gonzo winkt Sally Culpepper, die Tür mit dem zweiten Dorn zu blockieren. Sie reagiert sofort. Jetzt geht es sehr schnell. Gonzo lugt durch das Loch und ist zufrieden. Er und Jim hacken einen niedrigen, schmalen Ausgang in die Wand, wir kriechen nacheinander hinaus und versammeln uns draußen hinter ein paar Kisten und anderem Müll.
    Gonzo ist nicht mehr da, als ich draußen hüpfend ankomme. Aber als Egon erscheint, taucht er wieder auf, einen vor Kurzem verstorbenen bösen Buben über die Schulter gelegt und ein Automatikgewehr in der freien Hand. Ersteren lässt er auf den Boden fallen, Letzteres reicht er nicht Jim, sondern Sally. Dann zieht er sich die zu kleine Jacke und den Helm des Toten an und schlendert wieder davon. Er verschwindet um die Ecke, ich höre, wie er jemanden ruft, es ist ein sehr freundlicher Laut. Gonzo mag wirklich alle Leute. Ihm wäre es viel lieber, wenn sich die Leute freiwillig seinem Standpunkt anschließen könnten. Er weiß, dass das nicht passieren wird, grinst aber trotzdem liebenswürdig (das weiß ich genau, obwohl ich ihn nicht sehen kann) und umarmt den neuen Kumpel. Irgendwann während der Umarmung bemerkt der Umarmte dann, dass er weder atmen noch rufen kann, sondern sich völlig in der Gewalt dieses Fremden befindet – und dann spürt er überhaupt nichts mehr. Weil Gonzo wenig Zeit hat und sich keine Fehler leisten kann, wird der Umarmte nicht wieder aufwachen. Gonzo wirft einem seiner Leute die nächste Uniform hinüber. Es ist ein kleiner, dicker Mann namens Sam, der an emotionalem (womöglich gar physischem) Priapismus leidet. Sam ist ein geiler Bock. Er würde sogar eine Schaufensterpuppe anmachen. Als er sich die geborgten Klamotten angezogen hat, folgt er Gonzo schweigend und ernst, das Messer im Ärmel verborgen. Sam kommt jetzt zur Sache. Das ist sehr beängstigend. Ein gedämpftes Scharren ertönt, dann kehrt Sam zurück. Auf seiner Uniform klebt kein Blut, auch nicht auf der des Mannes, den er getötet hat. Nur die Messerklinge ist blutig. Was hat er getan? Etwas Kluges. Etwas Gemeines. Fröhlich wie immer lässt Sam die Leiche fallen und schnauft. Auch das harte Training kann die Biologie nicht völlig ausschalten, und Sam ist im Grunde ein dicker Mann. Der Mund des Toten geht auf, irgendetwas quillt heraus.
    »Der Nacken«, erklärt Sam, worauf Jim Hepsobah ihn einen Angeber nennt. Sam zuckt mit den Achseln. »Hat grad so gepasst«, meint er und verschwindet wieder.
    Ungefähr acht Minuten sind vergangen. Bleibt noch der Scharfschütze im Tower. Ausweichen oder ausschalten? Beides ist schwierig. Gipfelkonferenz hinter den Kisten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, bis wir entdeckt werden.
    Exakt zehn Minuten nach unserer Begegnung wirft eine orangefarbene Gestalt den Scharfschützen durchs kaputte Fenster des Towers und verschwindet wieder. Der Scharfschütze fällt lautlos herab und prallt hart auf den Boden. Er hüpft noch einmal, obwohl man eher sagen müsste, sein Körper hüpft. Denn er landet auf dem Kopf, von dem das meiste auf dem Beton kleben bleibt. Ein paar Sekunden später steigt eine schwarze Rauchwolke aus

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