Die gelöschte Welt
darauf ihrem Beispiel, und ich sehe mich auf einmal von einem kleinen Auflauf nickender Clownsgesichter umzingelt. Kein Bild, das ich in meinen Erinnerungen bewusst wachhalten will. Ich wende den Blick ab und entdecke Marbella, die mit einer Boa constrictor auftritt. Offensichtlich ist dies nicht die Nummer mit dem Seestern, für die zwei Türen weiter auf der Straße geworben wird, denn 1. gibt es keine Cowboys, 2. stammt diese Schlange aus Madagaskar und nicht aus Südamerika, und 3. ist es zwar bemerkenswert obszön, verschlägt mir aber keineswegs die Sprache.
Ich nicke dem Matahuxee Mime Combine zu, worauf Ike Thermite breit grinst. Jim Hepsobah klopft Ike auf den Rücken und sagt, ein Arschloch, das in einer Spelunke wie dieser hier Milch bestellt, sei ein echter Mann. Die Mimen finden in unserer Gesellschaft Aufnahme und kommen in einer langen Reihe zu unserem Tisch herüber. Sie trinken Bier, irgendetwas mit einer Kirsche oder auch durchsichtigen Schnaps und lächeln nicht, als wären sie eine Existenzialistenbrigade beim Angriff.
Ike Thermite hebt sein Glas.
»Auf den Mann der Stunde«, ruft er. Zwei seiner Begleiter stehen auf und ahmen ihn nach, doch sie sind inzwischen stark angetrunken, und so misslingt das Spiel und gerät zur Farce. Sie setzen sich wieder und brechen in ein stummes, heulendes Lachen aus.
Ich frage Ike, warum er sprechen darf.
»Das ist wie bei den Trappisten«, erklärt er.
Nicht, dass mir das viel sagt.
»Trappisten«, erklärt Ike Thermite, weil wir jetzt für immer Freunde sind, uns gegenseitig ein Bier ausgeben und vereint im Kreise dürftig mit Paillettenkleidern verhüllter Frauen sitzen, die uns heiser etwas ins Ohr hauchen – wie billige Lauren Bacalls (Lauren in diesem Film mit Humphrey Bogart, in dem sie so atemberaubend und umwerfend sexy war, nicht in den anderen, wo sie kühl, schön und etwas reserviert spielte).
»Trappisten sind Mönche«, setzt Ike Thermite noch einmal an, weil er es mir ganz genau erklären will. »Sie legen ein Schweigegelübde ab. Allerdings haben sie einen, der reden darf, damit die anderen es nicht tun müssen. Er ist so etwas wie ein von allen anderen ernannter Sprecher. Es muss jemand sein, der durch das Sprechen nicht korrumpiert wird – der so tief in ihrer Sache verwurzelt ist, dass das Schweigen für ihn irrelevant wird. Jemand, dessen inneres Schweigen so tief ist, dass es auch durch laut gesprochene Worte nicht gebrochen werden kann.«
»Und du bist derjenige?«, frage ich.
Ike Thermite nickt.
»Ich bin völlig gelassen«, sagt er.
Das kommentiere ich nicht, weil mir nichts Höfliches einfällt, das ich darauf sagen könnte.
»Weißt du«, fährt Ike Thermite fort, »es wäre nett, wenn du wenigstens so tun könntest, als würdest du mir diesen Unfug glauben. Sonst komme ich mir so mies vor. Oje!« Die letzten Worte hat er gesagt, weil ein sehr kleiner Mime mit einer Brille streitlustig mit einem Finger auf den nächsten Türsteher zeigt und ihm mithilfe eines universell verständlichen Symbols der Zeichensprache etwas sehr Unhöfliches sagt.
»Ich kümmere mich darum«, sagt Ike Thermite. Dann fällt er um, und einen Moment später schnarcht er. Es ist nicht das Schnarchen eines Schauspielers, sondern so laut und hässlich wie eine Kettensäge, und dabei sabbert er.
Annie der Ochse setzt sich hin und sieht mich scharf an.
»Na gut, Tiger«, sagt sie. »Die Dame da drüben wird auf höchst vulgäre Weise für dich tanzen, und das werden wir zwei genießen, obwohl es uns eigentlich nicht interessiert. Und dann werde ich dich nach Hause bringen und deiner Braut übergeben, bevor es hier unangenehm wird, okay?«
Annie der Ochse ist ein Engel der Gnade mit Schuhgröße sechsundvierzig.
Irgendwo im Raum höre ich Lärm, als ein Pantomime zusammengeschlagen wird.
Leah und ich heiraten in der alten Kirche an der Soames School. Das ist weit von der Piper 90 entfernt, deshalb mussten wir fast unseren gesamten Urlaub in einem Stück nehmen und haben keine Flitterwochen mehr. Aber das ist mir egal. Als sie durch die Kirchentür tritt, sehe ich nur noch Licht. Sie riecht nach Jasmin und sauberer Spitze. Die Kirche riecht nach altmodischer Möbelpolitur. Die Bänke, die Kerzenständer und sogar die Luft, alles schimmert und scheint von innen heraus zu strahlen. Der Handlauf des Altars besteht aus Gold, was mir seltsam vorkommt, denn ich erinnere mich genau an die gefärbte alte Eiche. Leah glänzt so hell, dass ich schon
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