Die gelöschte Welt
meine Aufmerksamkeit zu erregen. Er schlägt wie ein Mädchen. Ha! Ich wurde erschossen. So eine Ohrfeige stört mich nicht. Ich spüre keine Schmerzen. Das sage ich ihm auch. Er hat so große runde Augen wie eine Kuh. Vielleicht ist er eine Kuh. Höchstwahrscheinlich hat sich eine freundliche Kuh zu mir gesetzt und sieht mir beim Sterben zu. Er weint nicht, seine Tränen fallen nicht auf mein Gesicht, sondern er leckt mich mit der Einfalt eines Rindviehs. Vermutlich sehnt er sich nach Ablenkung oder nach einem Keks, vielleicht will er auch nur einem befreundeten Säugetier helfen. Eine kameradschaftliche Kuh. Ich frage mich, ob er traurig sein wird, wenn ich mein Leben aushauche. Vielleicht sollte ich noch ein Weilchen warten, bis er wieder weg ist. Soll ich warten, Kamerad Kuh? Ja, sagt die Kuh. Warte. Warte.
Ich warte. Hier in der Sonne ist es kalt. Ich schaudere. Die Kuh nimmt mich in schlanke Arme (meine Halluzinationen, aber wenigstens folgen sie meinen eigenen Regeln, ja!) und bettet meinen Kopf in ihren Kuhschoß. Alle Kühe sind Mädchen. Oder jedenfalls alle Kühe, die einen Schoß haben, Jungs-Kühe haben wegen ihrer männlichen Anatomie keinen freien Platz im Schoß. Warte, sagt Kamerad Kuh. Warte noch.
Ich liege sieben Stunden, neun Minuten und acht Sekunden in dieser unbequemen Stellung. Ich weiß das, weil ich die Sekunden zähle. Kamerad Kuh sitzt die ganze Zeit bei mir und redet mit mir, er lässt mich nicht einschlafen, was ich sehr gern tun würde. Ich werde ein Kuh-ist (was sich auf Mao-ist und Dao-ist reimt). Ich lebe für Kamerad Kuh. Endlich erscheint ein knubbeliger silberner Airstream-Bus in meinem Gesichtsfeld und füllt es aus wie ein straßentauglicher Wal. Aus seinem Bauch – durch den Mund oder die Fahrertür – springt Jonas, der sogleich ruft und Befehle erteilt. Er ist sehr dick und trägt offenbar einen Sarong. Sie rollen mich auf eine Trage und machen magische Dinge mit mir, damit ich mich besser fühle. Aber davon bekomme ich leider nichts mehr mit, denn als Jonas bemerkt, dass ich voll bei Bewusstsein bin, beginnt er zu fluchen. Dann füllen sie mich mit einer schrecklichen blau-weißen Kälte, die in einer Hand beginnt und rasch auf den Rest meines Körpers übergreift. Erst als sie darin nachlassen, bemerke ich, welche Schmerzen ich die ganze Zeit hatte.
Dann werde ich ohnmächtig.
11 Das falsche Nachleben • Der Teufel
• Ein Heidenspaß
Wo ich auch bin, es ist ein angenehmer Ort. Nun ja, mit einem kleinen Vorbehalt: Denkbar ist, dass ich tot bin, aber davon mal abgesehen, ist es ein angenehmer Ort. Es gibt Felder. Man könnte sie auch Weiden nennen, obwohl es eigentlich keine Rinder gibt (der arme Kamerad Kuh wäre hier sicher einsam), und daher auch keine vom Vieh herrührenden Nebenprodukte, durch die man nicht gern barfuß läuft. Dies sind Felder von der Art, die man sich als Belohnung im Jenseits vorstellt. In der Ferne erkenne ich Berge, die aber anders aussehen als die in meiner Heimat – in meiner alten Heimat. Diese hier sind größer, blauer und stärker verschneit. Deshalb tut es auch nicht weh, sie anzuschauen. Eigentlich tut mir überhaupt nichts weh, was ich richtig gut finde. Außerdem gibt es Schäferinnen. In fast jedem Museum der Welt können Sie Schäferinnen wie diese sehen. Diese Fantasie ist offenbar in der ganzen Menschheit genetisch verankert. Diese Schäferinnen gehören dem unschuldigen, wehmütigen Ende des Spektrums schmutziger Träume an. Sie sind, um ehrlich zu sein, Nymphen. Sie kichern und bewegen sich auf eine Weise, die ich nur als »flitzen« beschreiben kann. (Flitzen ist eine Bewegungsform, die beinhaltet, auf Zehenspitzen zu laufen, mit dem ganzen Körper zu wackeln, zu hüpfen und höchst anmutig die Kleidung fallen zu lassen.) Sie sind anmutig, aber auf eine raffinierte Art, die große Übung verrät. Wenn ich sie ansehe, erwidern sie zwischen langen Wimpern meinen Blick. Wenn ich wegsehe, schmollen sie. Wenn sie annehmen, ich könnte sie aus dem Augenwinkel beobachten, dann rekeln sie sich wohlig und geben kleine, wimmernde Laute von sich, als verspürten sie einen angenehmen Juckreiz, der sorgfältiges Kratzen erfordert. Mir scheint, ich bin ein Heide.
Langsam dämmert mir diese Erkenntnis, die hauptsächlich darauf beruht, dass diese Damen praktisch nichts an sich haben, was vermuten lässt, sie seien Jungfrauen. Im christlichen Himmel gibt es keine vollbusigen, wollüstigen Jungfern. In einer anständigen
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