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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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christlichen Geschichte wären diese Mädchen züchtig bedeckt und würden Hymnen singen. Das ist aber hier ganz eindeutig nicht der Fall. Dies sind sexuell emanzipierte Frauen (denen die Evangelistin vermutlich öffentlich einen liederlichen Charakter vorwerfen würde). Wenn sie überhaupt singen, dann geben sie keine Hymnen, sondern kehlige, anrüchige Lieder zum Besten, bei denen die Sängerin am Ende der Vorstellung nackt ist und strahlend lächelt. Leider fehlt ihnen auch etwas – verdammt seien die Skrupel, die ich beim alten Lubitsch, bei Aline und all den anderen erworben habe.
    Verstehen Sie mich nicht falsch – man kann einer Nymphe ihr Benehmen und die durchsichtigen Kleider nicht vorwerfen, und sie wissen schon um ihre erotische Ausstrahlung. Aber wenn man über das natürliche Bedürfnis hinausblickt, ein elysisches Hinterteil zu packen und einen intensiven Qualitätstest durchzuführen, so stellt man fest, dass ihr Sozialverhalten beträchtliche Mängel aufweist. Das beginnt mit dem Vokabular, das abgesehen von »Oh-la-la« kaum mehr als ein paar Hundert Worte umfasst. Es fällt mir zwar schwer, mich hier zu konzentrieren – was an den Panflöten, dem Rekeln und dem unablässigen Miss-Nackedei-Wettbewerb liegt –, aber irgendwie wird mir schließlich doch bewusst, dass »Oh-la-la« kein Ausdruck ist, der im klassischen Griechisch sehr gebräuchlich war. Irgendwie kommt mir der Gedanke, ich könne spirituell fehlgeleitet sein. Ich bin tot, aber aufgrund eines Fehlers – von einer Art, wie ich sie nur zu gut kenne – bin ich im falschen Jenseits gelandet. Zwar ist es recht pittoresk und voller hübscher, aber ungebildeter und seltsamerweise französischer Nymphen, aber ich sollte mich so langsam mal auf die Socken machen. Also packe ich eine vorbeikommende Schäferin an dem am wenigsten erogenen vorstehenden Körperteil und versuche, ihr einige wichtige Informationen zu entlocken.
    »Entschuldigen Sie, wo bin ich hier?«
    Kichern.
    »Bin ich tot? Bin ich im Jenseits?«
    Prusten, Kichern, Hüpfen. Das Hüpfen ist interessant. Es lenkt mich ab. Sie geht davon. Ich reiße mich zusammen und schnappe mir eine andere.
    »Ich muss wirklich los. Es ist zwar nett hier, und ihr seid alle sehr attraktiv, aber ich muss doch mal fort und einiges erledigen, und eigentlich halte ich auch nicht so viel vom hedonistischen Jenseits. Ich bin eher der Typ für die wilde Schönheit, brausende Flüsse und riesige Meere. Das hier ist mir alles ein bisschen zu ländlich. Wenn es also irgendwo eine Tür geben sollte …«
    Hihi.
    Großmutter Wus Stimme ertönt in meinem Kopf und erklärt mir, dies sei eine ganz besondere Hölle für intellektuelle, einfühlsame Männer. Hier wird einem die eigene Asche nachgetragen, man wird mit Weintrauben gefüttert und kann bis in alle Ewigkeit so viel Gebäck essen, wie man will, aber die ganze Sache treibt einen letzten Endes doch ins Koma oder in den Selbsthass, bis man vor tödlicher Langeweile den Verstand verliert und der Selbsthass die Seele wie eine Rasierklinge zerstückelt. Wenn dies zutrifft, dann hat der höchste Richter meine Integrität gründlich überschätzt. Aber im Augenblick versuche ich immer noch, hier herauszukommen.
    »Ist denn niemand da? Ich will jetzt wirklich hier raus!« In gewisser Weise wird mein Wunsch auch erfüllt, denn ich fange Feuer. Das ist aber eigentlich nicht das, was ich erhofft hatte. Ich erkenne es sofort: Äußerstes Unbehagen und eine gewaltige Hitze breiten sich von den Fußgelenken, dem Punkt der ersten Zündung, nach oben zu den Schenkeln und zum Bauch hin aus. Ich werde am Marterpfahl verbrannt. An einem unsichtbaren, unberührbaren Marterpfahl. Wie reizend. Da aber Brandgeruch und echte Anzeichen von Feuer an den unteren Gliedmaßen fehlen, muss ich den Schluss ziehen, dass dies der Beginn meiner Versetzung in eine andere unpassende spirituelle Welt ist, die jedoch ähnlich unangenehm sein dürfte wie jene christliche Hölle (womit ich aber leider zu meinen Wurzeln zurückkehre), die James Joyce so eindrücklich in Ein Porträt des Künstlers als junger Mann beschrieb. Die Evangelistin hat es uns jedes Jahr zu Weihnachten vorgelesen. Also in die Hölle, und ich winde mich vor Qualen, denn ich bin gefallen und auf dem Gesicht gelandet. Die Nymphen achten nicht auf mich, während ich zuckend am Boden liege, was mich auf den Gedanken bringt, dass sie vielleicht gar keine echten Individuen, sondern nur spirituelle Automaten sind. Während

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