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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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welche unbekannte Verfehlung ihn so sehr getroffen haben könnte, dass er mit mir hierher fuhr. Es muss schlimm gewesen sein. Vielleicht haben er und Leah sich tatsächlich ineinander verliebt und haben jetzt eine dieser kitschigen Romanzen, die Jim Hepsobah so sehr verachtet. An Leahs Entschuldigung und ihr Unbehagen am vergangenen Abend kann ich mich noch gut erinnern. »Es tut mir so leid.« Aber nicht leid genug, um Reue zu üben und abzuschwören. Nein. Es steckt mehr dahinter. Bitte, Gott, hier gibt es mehr, als man auf den ersten Blick sieht.
    Dank dieser kurzen Besinnung habe ich die Gelegenheit verpasst, Gonzo in einem schnell fahrenden Truck anzugreifen, während er mit einer Hand lenkt und mit der anderen eine Pistole hält. Aber ich bedaure es nicht einmal richtig. Er wiederholt seine Aufforderung:
    »Steig aus.«
    Wenn er will, dass ich verschwinde, muss Gonzo nur den Truck anhalten oder wenigstens so weit abbremsen, dass ich mir nichts Wichtigeres als die Tüllen meiner Schnürsenkel zerstöre, wenn ich rennend auf dem Boden lande. Ich sage ihm das. Vielleicht drücke ich mich unklar aus, denn er zielt auf mich und drückt öfter ab, als ich es für möglich gehalten hätte.
    Nun werde ich also endlich erschossen.
    Ich frage mich kurz, ob es eine Rolle spielt, wenn man von einem Freund und nicht von einem Feind erschossen wird, aber dann wird mir klar, dass diese Kategorien nicht mehr eindeutig zu trennen sind.
    Die Erfahrung, aus kurzer Entfernung mehrere Schüsse in den Bauch zu bekommen, entspricht ungefähr dem, was man so darüber hört. Der einzige Unterschied ist, dass ich nicht ohnmächtig werde. Ich werde endlich erschossen, aber wie es aussieht, überlebe ich. Ich werde aus dem Truck geworfen, Gonzos Stiefel trifft über den Einschusslöchern meine Brust, und ich habe große Schmerzen. Der Wind erfasst mich und bläht mein Hemd wie einen Drachen. Ich krümme mich hilflos, bis mein Rückgrat nicht mehr weiter kann, die Arme sind über dem Kopf ausgestreckt, die neue Öffnung in meinem Bauch spannt sich, und es tut so weh, dass mir nicht einmal mehr übel wird. Ich entspreche jetzt ganz und gar einem dieser komischen Bilder von Andy Warhol: Silhouette eines Erschossenen, ein Siebdruck aus einer Serie, welche die winzigen Bewegungen in den vierundzwanzig Bildern einer Sekunde aus einem Kinofilm nachvollzieht. Ich bin in Schwarz auf Gelb gedruckt und erscheine auf T-Shirts. Ich bin der Che Guevara des Jahres. Eine einzige Sekunde trennt mich vom Asphalt.
    Ich verliere nicht das Bewusstsein.
    Ich reagiere wie ein Breakdancer, der eine dieser unglaublichen Drehungen auf dem Bauch macht. Ich pralle ab. Meine Wimpern streifen wie winzige Antennen über den Boden und erforschen ihn: knochentrockene Straße, Staub und Kies, ein Weizenkorn mit leicht klebriger Oberfläche. Ich rieche Öl und Hitze, Wüstengras und etwas Klebriges und Aromatisches, das ich nicht benennen kann. Dann stehe ich aufrecht und fliege in dieser Haltung dem beschleunigenden Laster hinterher. Die Schmerzen reiten auf meinem Schatten, meinen Engelsflügeln. Irgendwo sind Knochen gebrochen, das weiß ich, aber ich kann nicht sagen, welche genau es getroffen hat. Meine Beine berühren die Straße, brechen durch die Oberfläche, versinken im Boden. Die Erde ist zu weich, um mein Gewicht zu halten. Sie ist wie Zuckerwatte. Ich bin ein Titan. Nur wenn ich liege, kann mich die Erde halten, denn die größere Oberfläche stützt mein bemerkenswertes Gewicht.
    Ich lege mich hin, verliere aber immer noch nicht das Bewusstsein. Es scheint mir, das wäre jetzt durchaus angebracht, weil ich nicht mehr abpralle. Aber ich habe vergessen, wie das geht. Um mich herum sollte es dunkel werden, ich sollte ins Koma fallen oder vielleicht einen gnädigen Tod finden. Falls es diese Möglichkeiten überhaupt gibt, so sind sie im Streik oder faul, oder ich bin ein Passagier zweiter Klasse, und das Unterbewusste ist derzeit noch mit wichtigeren Fahrgästen beschäftigt.
    Ich liege auf dem Bauch, mein Gesicht drückt sich unangenehm auf den heißen Asphalt, ein kleiner Stein sticht mich ins Ohr. Das reizt mich mehr, als ich sagen kann. Als wäre das noch nicht schlimm genug, bekomme ich obendrein Halluzinationen. Eine Person mit einem Zylinder auf dem Kopf schreit mich an, ich solle aufwachen, was aber lächerlich ist, weil ich schon wach und über das ganze Chaos im Bilde bin. Die Person schüttelt den Kopf und geht sogar so weit, mich zu ohrfeigen, um

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