Die gelöschte Welt
Theaterschminke riecht.
»Tja«, sagt Ike Thermite leise, »das ist aber eine schöne Geschichte.«
Rheingold fällt hinter uns zurück. Ike Thermite, der ein sehr kluger Mann ist, obwohl er seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, sich das Gesicht anzumalen und über eingebildete Rollschuhe zu stolpern, hat mich gebeten zu fahren. Im Rückspiegel des Kleinbusses, hinter den mit Troddeln geschmückten Stoffsitzen und den abgerundeten Fenstern, auf denen Sticker von Tourneen und verschmierte Reste von Schminke kleben, reicht der Blick bis zum Horizont. Der Bus ist nicht von Geplauder erfüllt. Die Pantomimen bleiben – kaum verwunderlich – sehr still. Einige schlafen wie verängstigte Kinder mit weißen Gesichtern. Sie schniefen leise, und einer murmelt: »Mann! Leg das weg!« Dann dreht er sich herum und sabbert in seine verrutschte Baskenmütze. Die anderen sitzen nur da, betrachten die Landschaft und starren ins Leere. Wenn wir an etwas Bemerkenswertem vorbeikommen – einer Raststätte, einem einsamen Haus oder vielleicht auch nur einer Laterne, die einen kleinen Haufen Schutt und alte Zeitungen beleuchtet –, drehen sie wie ein Mann die Köpfe mit den großen schwarzen Augen und den Pagenfrisuren herum und betrachten es, bis es hinter der Fensterkante oder in der Dunkelheit verschwindet. Ich kutschiere einen Schwarm Eulen.
Die Straße vor uns ist gerade und frei, hier draußen gibt es keine Geschwindigkeitsbeschränkungen und erst recht keine Polizei, die sie durchsetzen könnte. Die einzigen Grenzen setzt der Motor im Bus des Matahuxee Mime Combine. Als er in Rheingold eintraf, war er so gut wie tot gewesen, aber danach hat K mit dem Sarong, der die Sprache der Schmiede ebenso fließend beherrscht wie den Dialekt der Nockenwelle, die Maschine wieder in Schuss gebracht. Er öffnete die Motorhaube, flüsterte mit den Händen, bekleckerte sich mit spritzendem schwarzem Dreck, Hydraulikflüssigkeit und faulem, sandigem Wasser und erklärte den Bus für gesund, aber schrecklich vernachlässigt. Er und K – Letztere geradezu hinreißend in einem Overall, ein Idol für jeden Transvestiten – nahmen die Maschine auseinander, schmierten und warteten sie, was mit vielen ausgesprochen erotischen Manipulationen und Reinigungen, komplizierten Intimitäten einherging. Sie überprüften die Zündung, kümmerten sich um die Kerzenstecker und die Lichtmaschine und mehrere andere höchst okkulte Angelegenheiten. Dann hielten sie Ike Thermite einen kurzen Vortrag über die Pflege eines Kraftfahrzeugs und erwähnten als warnendes Beispiel das, was er bis zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht getan hatte. Anschließend eilten sie davon, um sich einem postreparativen Koitus hinzugeben. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass sie ein Paar waren.
Ike Thermite sagt nichts zu mir, bis Rheingold nur noch als schwacher natriumgelber Fleck hinter dem Horizont glüht. Er lässt mir Zeit, mich ein Stück von dem Ort meines Erwachens zu entfernen, damit ich, wenn ich schon nicht meinen Dämonen entfliehen kann, wenigstens etwas Abstand zu ihnen gewinne, nachdem sie sich gezeigt haben. In der sicheren, hypnotisierenden Dunkelheit auf der Straße meint Ike Thermite schließlich, die Lenkung ziehe ein wenig nach links. Nach einem Augenblick antworte ich ihm, K habe dies sicher repariert, und er erwidert, nun ja, kann sein. Dann schweigen wir wieder eine Weile. Schließlich sagt Ike Thermite, er sei schon länger mit K bekannt und könne ihn sehr gut leiden, habe aber die ganze Zeit über insgeheim das Gefühl gehabt, er sei so verrückt wie eine Kiste Frösche.
Darauf erwidere ich: Obschon erst seit kurzer Zeit mit K bekannt, sei ich zu einer ganz ähnlichen Schlussfolgerung gelangt, auch wenn ich nicht in der Lage sei, den Punkt genau zu benennen, an dem Ks Version von dem, was ist, sich von jener aller anderen Menschen unterscheidet. Ike Thermite meint, das liege wohl daran, dass auch die anderen ein bisschen verrückt seien, wenngleich auf eine leichter akzeptable Weise. Ich muss ihm zustimmen. Wir kichern ein wenig darüber, dass K im Grunde nur der Auffälligste auf einem Planeten voller Narren ist, und Ike teilt seinen kleinen Vorrat Fruchtkaubonbons mit mir, die er anscheinend einer der Damen von Rheingold dank des Versprechens abknöpfen konnte, ihr beim nächsten Besuch noch größere Freuden zuteilwerden zu lassen. Bis zu diesem Augenblick habe ich mir Ike nicht recht als Frauenschwarm vorstellen können. Die Vorstellung,
Weitere Kostenlose Bücher