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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ein Pantomime könne Sex haben, kommt mir irgendwie abartig vor. Das sage ich ihm auch, worauf erneut hilfloses Kichern einsetzt. Einer der wachen Schauspieler schlurft herbei, gibt mir energische Zeichen und verlangt recht gereizt, ich solle mich auf das Fahren konzentrieren.
    Schließlich sagt Ike Thermite: »Das ist aber eine schöne Geschichte.«
    Beinahe hätte ich gefragt: »Welche Geschichte?«, aber ich verkneife es mir, da mir bewusst wird, dass es die dümmste Frage wäre, die jemals ein Mensch auf der Welt gestellt hat.
    »Ja«, sage ich.
    »Anscheinend hast du jetzt einiges zu tun.«
    »Ja.«
    Ike Thermite nickt. Es ist nicht das überzeichnete Nicken des Pantomimen, sondern ein nachdenkliches menschliches Nicken. »Wohin willst du zuerst?«
    Das ist eine sehr gute Frage. Ich will mit Leah reden. Das kann ich aber nicht. Ich weiß gar nicht, was ich ihr sagen soll. Vielleicht kann ich mit Jim Hepsobah reden. Vielleicht könnte Sally Culpepper ein Treffen arrangieren. Sally könnte sich an Egon wenden, und Egon könnte Leah Bescheid sagen. Vielleicht hat mich Gonzo auch zum Monster erklärt, das Menschen umbringt und allgemein als ungenießbar gelten muss. Und meine Freunde sind überhaupt nicht mehr meine Freunde. Ich setze mein Vertrauen in Jim Hepsobahs Integrität und Sally Culpeppers Klugheit. Sie werden wissen, was zu tun ist.
    »In diese Richtung, in Richtung der Berge«, sage ich zu Ike. »Dort kenne ich jemanden.« Bitte, mach, dass es wahr ist.
    »Wir haben einen Tourneeplan«, sagt er. »Wir haben Engagements.«
    Ich nicke.
    »Allerdings befinden sich die meisten mehr oder weniger in jener Richtung, und keines ist sehr dringend.« Er hält inne und sieht mich an.
    »Was ist mit den anderen?« Damit meine ich K und K (die Geliebten) und K (den Highlander), die Hirtenhunde, die indischen Laufenten und die anderen Ks, die im Augenblick noch das Zirkuszelt abbauen und morgen oder übermorgen zu uns stoßen sollen.
    Ike zuckt mit den Achseln. »Die kommen eine Weile ohne uns aus.«
    Ike Thermite bietet mir an, sich ungeheuer ins Zeug zu legen und mir zu helfen. Ehrliche Gesichter lügen. Und die Gesichter der Schauspieler? Pantomimengesichter sind bleich und fremd. Sie verspotten die Zuschauer. Ich antworte nicht.
    Ike Thermite reibt sich die Augen. Ich höre es knirschen.
    »Stell dir mal eine Frage«, sagt er. »Wenn du dich hier umschaust, fällt dir dann auch nur einer auf, der besonders fröhlich ist? Ich meine, gibt es hier im Bus jemanden, der gern Rot oder Orange trägt? Gelb oder Blau? Irgendeine andere Farbe als Schwarz?«
    Es gibt keinen. Aber K und seine Leute sind bunt. Sie sind ausgesprochen munter.
    »K«, sagt Ike Thermite, »war früher mal Arzt. Er wurde befördert und ging in die Verwaltung, und schließlich war er Manager. Er arbeitete für das System. Er lebte und atmete es. Er war sehr gut. Er heiratete, hatte eine Familie. Eines Morgens wachte er auf und erkannte, dass er sie seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte. Er wusste nicht einmal mehr, in welcher Stadt sie sich gerade aufhielten. Vielleicht in der Hauptwohnung in New Paris, vielleicht im Appartement in Konstantinopel oder im Ferienhaus in Tavistock Villas. Also überprüfte er sein persönliches Eingangskörbchen, in dem sich die Dokumente schon einen Meter hoch stapelten. Er fand ein paar Rechnungen, etwas Reklame und ein paar Geburtstagskarten aus dem letzten Jahr. Schließlich stieß er auf den Brief eines Anwalts, der ihm mitteilte, seine Angehörigen seien bei einem Unfall ums Leben gekommen. Offenbar war es ein großer Unfall gewesen – alle Zeitungen hatten darüber berichtet. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sie auf Reisen gewesen waren, und er hatte auch nicht die Nachrichten verfolgt, weil das aus beruflichen Gründen nicht nötig war und sein Job von ihm verlangte, dass er persönliche Angelegenheiten anderswo lagerte und unter Verschluss hielt. Das tat er auch, weil es für jemanden wie ihn so das Richtige war. Er war eben ein Profi. Vielleicht tat er es auch, um ein guter Dad zu sein, aber das ist etwas anderes. Das ist eine persönliche Motivation, und an so etwas dachte man während der Dienstzeit nicht. Nun gut, er hatte also die Beerdigung verpasst, weil er das tat, was er tun sollte, indem er sich wie ein Profi verhielt. Vielleicht … vielleicht denkst du nun, er kündigte auf der Stelle. Aber das tat er nicht. Hätte er es getan, dann hätte er vielleicht sogar einen Nervenzusammenbruch

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