Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
geliebten Phänomens der Nachbilder immer noch Sallys Beine – ihre Schenkel – betrachten, während sie um Jim herumschreitet, wobei sich die Beine überkreuzen und wieder öffnen, in diesen endlosen Netzstrümpfen mit der purpurnen Borte flüsternd übereinanderstreichen. Bilder von Schatten und Haut, tiefere Geheimnisse als bloße Beine, die durch meinen Blick nicht gelüftet werden sollten, setzen sich in den primitiven, schamlosen Regionen meines Gehirns fest und brennen sich in mich ein. Ich bin nicht scharf auf Sally Culpepper persönlich, aber ihr Körper, den ich in diesem Moment spielerischen Verlangens sah, dient mir als Erinnerung daran, dass ich keineswegs aufgehört habe, ein sexuelles oder romantisches Wesen zu sein. Mein Drang, monsterhaften Sex zu haben, ist nicht verschwunden, nur weil ich verlassen und erschossen wurde. Vielleicht trifft sogar das Gegenteil zu. Bis jetzt habe ich diesen Teil meines Selbst einfach klein gehalten. Oder er hat geschlafen.
    Das ist nun vorbei. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass ich in diesem Augenblick mit dem Rücken zu ihnen stehe.
    So lächerlich und absurd mein Verhalten auch ist, möglicherweise rettet es mir das Leben, denn es ist eindeutig kein Angriff und hilft Jim, seine erste Reaktion zu zügeln, als er mich sieht. Er greift sofort unter die Serviette oder das Handtuch, um eine sehr reale, an Al Capone erinnernde Kanone zu ziehen. Ich bete inbrünstig, dass mir Sally Culpepper nicht das Messer an die Kehle setzt. Die Kombination aus Gefahr und Sex würde mich vermutlich in einen unverbesserlichen Perversen verwandeln. Glücklicherweise verzichtet sie darauf. Vielmehr höre ich es nervös rascheln und rauschen, und als Jim Hepsobah mir befiehlt, mich umzudrehen, steht er auf den Füßen, und sie versteckt sich ein Stückchen links hinter ihm. Inzwischen trägt sie ein Paar karierte Hosen mit Hosenträgern und ein weißes Hemd. Ich vermute, dass dies der Rest der Friseurausstattung ist. Die Hosenträger stellen faszinierende Dinge an, die ich nicht völlig ignorieren kann, aber die Gefahr, dass ich – beispielsweise – vor Lust grunzen könnte, sobald ich nur den Mund öffne, ist gebannt. Leider bleibt die Gefahr bestehen, dass Jim Hepsobah mich erschießt.
    Jim sieht mich böse an.
    »Wer, zum Teufel, bist du denn?« Er sagt es fast tonlos. Kein Zweifel, dass er es ganz genau so meint, wie es klingt.
    Das ist nicht die Frage, mit der ich gerechnet hatte. Sie trifft mich wie ein Schlag. Zuerst einmal rede ich hier mit Jim, der nach Gonzo der Erste ist, dem ich blind vertrauen würde. Er ist mein Kumpel, aber zugleich ist es nicht Jim oder jedenfalls nicht mein Jim. Dies ist der Jim Hepsobah, den Fremde sehen: ein großer, starker Mann mit einer Begabung, Krieg zu spielen. Ich bin Sergeant Jim – und komm mir ja nicht in die Quere. Dieser Mann fragt mich, obwohl wir ein gemeinsames Jahrzehnt hinter uns haben, wer ich sei. Das kann doch nicht wahr sein. Er weiß ja, wer ich bin. Er war dabei. Aber offensichtlich kennt er mich nicht. Zugleich ist das, abgesehen von Jims Interesse, sie zu stellen, eine verdammt gute Frage. Wenn ich nicht Gonzo Lubitschs bester Freund und zuverlässiger Helfer, wenn ich nicht Leahs Mann und Gonzos Freund bin, obwohl ich mich mein ganzes Leben lang darüber definiert habe, wer bin ich dann? »Opfer« ist nicht gerade eine Rolle, auf die ich besonders scharf bin. Vizepräsident für Strategie und Planung in der Haulage & Hazmat Civil Freebooting Company, na klar – aber nicht, wenn Jim mich nicht mehr kennt. Widerstrebender Soldat. Ehemaliger theoretischer Anarchist (mit Vorbehalten und im Wissen, dass es nur um Sex ging). Student an der Schule des Stummen Drachen (stillgelegt). Einsames Kind in einem Sandkasten. Offenbar bin ich das alles nicht mehr. Ich bin verschwunden, als hätte ich nie existiert.
    Mir kommt in den Sinn, dass ich vielleicht das Ziel irgendeiner Art von Ironie bin. Vielleicht hat das giftige Zeug in Station 9, als es über meinen Anzug strömte, in die Risse eindrang, meinen Körper berührte, mich infiltrierte und mich verwandelte – bäh – mit meinen Schuldgefühlen reagiert, da ich vor langer Zeit in der Kommandozentrale George Copsens rechte Hand war. Ich habe all dies in Gang gesetzt, und nun bekomme ich die Quittung. Gewissermaßen. Vielleicht bin ich dank eines Tricks, den ich noch nicht begriffen habe, und aufgrund meiner eigenen – mir unbewussten – Bedürfnisse auch selbst entfernt worden.

Weitere Kostenlose Bücher