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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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beherrschen. Als ich während Ronnie Cheungs fortgeschrittenem taktischem und strategischem Fahrkurs mit dieser Doktrin experimentierte, fand ich heraus, dass man auch ein unbelebtes Objekt kennenlernen kann, um – beispielsweise – die Straße durch die Räder eines Fahrzeugs zu lesen und deren Oberfläche und andere Bedingungen einzuschätzen. Das hatte ich in Ks Airstream getan. Es ist viel einfacher, wenn man das betreffende Fahrzeug gut kennt. Irgendwann fungieren der Stahl und der Gummi als eine Erweiterung des eigenen Körpers. Spürst du das? Ein Kieselstein auf der linken Seite. Windgeschwindigkeit? Fünfundzwanzig bis dreißig Knoten aus fünfunddreißig Grad (falls das verbeulte Mandala aus Chrom auf der vorderen Haube tatsächlich auf null Grad weist). Im Augenblick lehnt noch ein Mann am hinteren Kotflügel. Vermutlich ist es Ike Thermite. Pete ist es sicher nicht, denn er bewegt sich eckig und mit größerem Nachdruck. Es ist ein stiller, eleganter Mensch, der sich geschmeidig bewegt und mit den Händen lauscht. Ein Akrobat oder ein Gelehrter. Ike Thermite ist natürlich beides. Wu Shenyang hätte ihn gemocht.
    Ike öffnet die Beifahrertür.
    »Wohin fahren wir, Cowboy?« Er hat eine Pantomimin gefunden, die den Bus steuert; sie heißt Lianne und ist auf eine Kombination aus Drahtseil und Tanz spezialisiert. Die anderen rollen sie auf Stäben und Leitern entlang, als wäre sie ein Wasserball. Am Ende richtet sie sich benommen und schwankend wieder auf, dann schleudert irgendein Unfall sie erneut auf einer anderen Stange entlang, als trotzte sie der Schwerkraft. Eine großartige Slapstick-Nummer. Lianne hat einen sagenhaften Gleichgewichtssinn und ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen und ist fast nicht aus der Ruhe zu bringen. Genau der Mensch, dem man sein Fahrzeug anvertrauen möchte. In der Zwischenzeit kommt Ike mit mir. Es ist seltsam, dass er den Beifahrersitz einnimmt, während ich an Gonzos Stelle sitze. Mir wird beinahe so schwindlig wie am Rand einer Steilklippe – der eigenartige, perverse Drang, genau das Allerschlimmste zu tun. Im Falle einer Klippe würde dies natürlich bedeuten hinabzuspringen. Hier bedeutet es dagegen, wie Gonzo zu werden, eine Waffe zu ziehen und den Beifahrer mit Kugeln zu durchsieben. Ich schiebe diese Gedanken in die verrückte, böse Abteilung meines Unterbewusstseins zurück, wo sie hingehören.
    Ich lasse den Motor hochdrehen. Annabelle brummt so unmelodisch wie ein Bär, der auf einem Fagottisten Winterschlaf hält.
    »Nach Hause«, erkläre ich ihm. »Nach Cricklewood Cove.«
    Ike Thermite betrachtet mich neugierig. Wieder macht er dieses Gesicht, das mir sagt, hier seien Dinge im Gang, über die er mehr erfahren sollte. Das würde ich auch gern.
    »Warst du schon mal dort?«
    Ike Thermite zuckt mit den Achseln. »Hab davon gehört«, sagt er.
    Ich lasse Annabelle von der Leine.
     
    Ike Thermite und das Matahuxee Mime Combine begeben sich auf eine Art Pilgerschaft. Offenbar lebte einmal ein beliebter Pantomime in Cricklewood Cove (sofern Pantomimen überhaupt beliebt sind), und nach seinem Tod richteten die Erben in seinem Haus ein kleines Museum ein. Pantomimische Artefakte sind in Glaskästen geschützt und werden als Relikte des Meisters verehrt. Bunsenbrenner und Reagenzgläser (zur Herstellung von Theaterschminke), weiche Schuhe, eine Nähmaschine (Pluderhosen bekommt man nicht von der Stange), eine Wand voller Fotos von großen Auftritten. Der Meister schüttelt dem Herrscher der Vereinigten Inselkönigreiche die Hand. Der Meister tanzt mit zwei Prinzessinnen Samba. Der Meister gibt »Mauer hochklettern, in etwas Ekliges treten« für den thailändischen Botschafter, der sich darüber amüsiert. Der Meister in seinem einzigen Film, Das stille Leben, in dem er einen schwermütigen Mörder spielt, der gerne komisch wäre. Ike Thermite versichert mir, dies alles sei faszinierend und ein wenig traurig. Außerdem ist es das einzige Museum der Welt, in dem es keinen Audioführer gibt.
    Ich staune, dass ich noch nie dort war. Ma Lubitsch hat uns als Kinder in jedes Museum der Stadt geschleppt. Ike Thermite weist mich sanft darauf hin, der Meister habe damals wohl noch gelebt.
    Mit leicht krummen Beinen entfernt sich Ike (Annabelles Sitzbank ist stabil und dauerhaft, aber nicht sehr bequem), ihm folgt eine lange Reihe von respektvoll nickenden Pantomimen in Rollkragenpullovern und mit Baskenmützen. Sie sind wie eine kleine Armee, sehr konzentriert und

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