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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Oder nur halb, damit ich (der Systematiker in mir macht eine Notiz für Großmutter Wu über diese neue, aufregende Variante) eine ganz persönliche Hölle erlebe, in der ich mein eigenes Leben von außen betrachten kann. Die Leute haben mich vergessen, die Welt ist von allen Seiten herangestürmt und hat die Lücke geschlossen, die ich hinterlassen habe. Leah ist keusch, Gonzo ist unschuldig. Ich bin mein eigener Geist. Noch ist nicht alles verloren.
    Eine hübsche Idee.
    Eine bequeme Lüge.
    Allmählich erkenne ich die Wahrheit. Sie ist schlimmer, als ich dachte.
    Ich betrachte Sally Culpepper – meine letzte Hoffnung. Ihre Miene wirkt unbewegt und kalt. Nicht ein Fünkchen des Erkennens glimmt in ihren Augen. Wäre es jemand anders – sagen wir mal, Samuel P. oder Tommy Lapland kämen die Treppe vor einem schmierigen Bordell herunter und zögen ihre Waffen, sobald sie mich sehen –, dann könnte ich glauben, dass sie zu große Angst haben oder wegen ihrer Schuldgefühle nicht mit mir reden und der Begegnung mit mir ausweichen wollen. Aber das trifft auf Jim nicht zu, der sich noch nie vor unangenehmen Tatsachen gedrückt hat, und erst recht nicht vor Sallys Augen. Die Scham darüber, sich seiner Verantwortung zu entziehen, würde ihn umbringen. Auch Sally würde so etwas nicht vor Jim tun, da er sie immer vollkommen ruhig und gefasst sehen soll. Dabei erkennt sie nicht, dass es gerade ihre Unvollkommenheiten sind, die er liebt – die Delle in dem Arm, den sie sich als Kind gebrochen hat, den Moment, wenn sie mitten im Schluck lachen muss und das Bier aus ihrer Nase tropft. Genau deshalb macht er ihr keinen Antrag. Er fürchtet, sie zu verderben.
    »Entschuldigung«, sage ich. »Mein Fehler. Ich verschwinde.«
    Mit erhobenen Händen ziehe ich mich durch die Tür zurück. Die Al-Capone-Kanone folgt mir bis zur Tür.
    Ach, was soll's.
    »James Vortigern Hepsotiah«, sage ich und sehe, wie es ihn quer durch den Raum trifft. »Du musst diese Frau bitten, dich zu heiraten. Sie ist dein Herzschlag und jeder Tropfen Blut in deinen Adern, aber in den dunklen Stunden vor der Dämmerung fürchtet sie, sie könnte dir vielleicht nicht reichen. Also sei nicht so ein Trottel und tu es endlich.«
    Dann gehe ich in den Vorgarten hinaus und bin froh, wenigstens dies gesagt zu haben.
     
    In Filmen ist es immer toll, wenn man der Mann ohne Namen ist. Die Frauen fliegen auf einen, und irgendwie ist man stets gefährlicher als die anderen. Man hat keine Vergangenheit und geht einem geheimnisvollen Schicksal entgegen. Alles sehr aufregend. Aber ein Schicksal wollte ich nie haben. Ich war ganz zufrieden damit, ein Leben zu haben. In den Filmen ist es ein edles Kümmernis, keine Identität zu besitzen, was dem Helden Tiefgang und romantische Begegnungen verschafft. Im richtigen Leben dagegen ist es eine kalte, traurige Tatsache, und irgendwelche Aussichten gibt es auch nicht. Außerdem würde sich, wäre das Leben ein Film, wenigstens mein Hund an mich erinnern. Wenn alle mich fassungslos und verständnislos anstarren, während ein gut gewähltes Stück von Sibelius meinen Schmerz untermalt, trottet der schlichte, treue Hund aus meinem alten Haus, verlangt im Guten wie im Schlechten Teilhabe an meinen Abenteuern und rettet mir in der Schlusssequenz das Leben. Aber ich besitze ja gar keinen Hund. Gonzo hat einen.
    Auf einmal verstehe ich die Sammlung von Puppenköpfen, die Annie der Ochse sich zugelegt hat.
    Ich kehre ins Pantomimenmobil zurück. Ike Thermite kann sich auf meine Frage hin nicht erinnern, mich im Ace of Thighs gesehen zu haben. An einige Leute unserer Truppe kann er sich durchaus erinnern, aber nicht an mich. Ich verrate ihm nicht, dass ich mich frage, ob ich entfernt worden bin (überarbeitete Fassung) und spekuliere auch nicht über die andere Möglichkeit. Vielmehr frage ich ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde, einen Umweg zu fahren und den missmutigen Pete aufzusuchen. Pete erinnert sich vielleicht auch nicht an mich, aber das ist völlig normal. Für Pete sind Kunden einfach nur nervige Leute, die ihm Arbeit bringen, die eigentlich nicht hätte anfallen dürfen, und die obendrein zu spät zahlen. Aber bei Pete befindet sich meine einzige verbliebene Freundin, die ich jetzt sehen will. Ich will sie berühren (mich vergewissern, dass sie real ist) und sie bitten mitzukommen. Sonst werde ich noch verrückt.
    Der missmutige Pete unterscheidet sich von der übrigen Menschheit dadurch, dass er winzig ist. Ich meine

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