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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ignoriert, bin ich oft recht begabt. Ich bin seine Kontrastfigur, sein Schatten und sein Jiminy Grille. Jemand, der immer die Schuld auf sich nimmt, die Eimer schleppt, sich bekennt, die Wahrheit sagt und in der Schule aufpasst. Ein Ausbund an langweiligen Tugenden und eine himmlische Zuflucht, wenn es Ärger gibt. Vernünftig, klug und umsichtig, während Gonzo kopflos, intuitiv und überstürzt reagiert. Gonzo spaltet sich in der Mitte und weiß, dass er nie wieder allein sein wird.
    Der Sandkasten ist nicht der Ort, an dem wir uns trafen. Es ist der Ort, wo ich geboren oder vielmehr erschaffen wurde. Ich bin Gonzos unsichtbarer Gefährte, sein Freund in allen Widrigkeiten, sein Mitverschwörer bei allen Bosheiten, sein Helfer in der Not. Wir sind unzertrennlich und ergänzen einander, wir gehen unseren Weg, schlagen unsere Schlachten und bieten uns in schwierigen Zeiten eine Schulter zum Ausweinen oder geben uns gute Ratschläge. Ich bin der Mann, der er an jedem Wendepunkt seines Lebens lieber nicht sein wollte, auch wenn er manchmal meine Hilfe und Unterstützung einforderte, falls er mit Draufgängertum und brillanter Improvisation nicht weiterkam. Dabei fällt mir ein: Wie unterscheidet sich dies eigentlich von dem, was vor einer Woche geschehen ist? Viele Dinge, an die ich mich erinnere, sind wahr – bis auf die Randbereiche der Geschichte, die Gonzo für mich ersann, wie etwa das Haus auf dem Aggerdean Bluff und die Eltern, die ich nie hatte –, und zugleich ist alles gefälscht. Leah aber … auch Leah ist in gewisser Weise echt. Doch ich habe sie für Gonzo gewonnen, wie es scheint – und wenn ich ehrlich bin, dann sah er sie vor mir und machte ihr einen Antrag, als ich bewusstlos war. Eine wahrhaft überstürzte Entscheidung. Vielleicht liebte sie ihn schon, bevor sie mich liebte. Er muss furchtbar erschrocken sein, als er sich umdrehte und mich dort in der Station 9 neben sich entdeckte. Der geheime Hüter seiner Träume war real geworden, seine Gedanken waren zum Leben erwacht. Es kommt nicht oft vor, dass man so direkt mit sich selbst ringen muss. Doch dies war das erste Mal gewesen, dass wir völlig übereinstimmten. Jim beschützen, den Auftrag erledigen. Die Welt retten.
    Dieser Augenblick, als es geschah, dieses grässliche Plink, als alles schiefging. Die kalte, furchtbare Brühe strömte auf uns herab und verlangte nach Anweisungen. Sie fand Gonzos rissige Noosphäre, seine Meinungsumschwünge und seine Wahllosigkeit, weil er noch nie eine ernsthafte Entscheidung getroffen hatte – er ging einfach immer den Weg des geringsten Widerstandes. Einerseits war er der Held, der furchtlose Mann der Tat. Andererseits … war er ich: die zweite Geige, ein dürrer Mitläufer, ein kleiner Pfadfinder – und nicht selten der Partner mit den reiferen, klügeren Ideen. Gemeinsam gerieten wir in die Sintflut des rohen, unausgeglichenen Zeugs, der Ursuppe des Universums. Unausweichliche Konsequenz:
    Meine eigene kleine Reifikation.
    Ich wurde zu Fleisch und ihm während dieser Verwandlung weggenommen. Eigentlich hätte ich niemals real werden dürfen. Wie schrecklich, wenn man einem eingebildeten Gefährten alle Selbstzweifel anvertraut und ihm alle Wahlmöglichkeiten vor Augen führt, um ihn eines Tages vor sich stehen zu sehen. Gonzo musste sich innerlich einsam fühlen, nachdem ich ihm entsprungen und von ihm getrennt war. Es musste still und leer in ihm sein.
    So überlebte ich natürlich auch die Schüsse. Da ich frisch erschaffen und neu war, hatte ich noch nicht genug Substanz, um zu sterben.
     
    Ich bin ergriffen auf die Knie gesunken, weil es mir so passend erschien. Jetzt frage ich mich, warum. Der Sand gibt seine Feuchtigkeit an meine Hosen ab, ein paar Körnchen sind sogar durch den Stoff gedrungen und jucken auf meiner bloßen Haut. Ich frage mich, ob es hier Sandflöhe gibt. Die Teenager beobachten mich mit großem Interesse. Wenn dies der üblichen Erzählweise von Horrorgeschichten folgt, dann muss ein Mann, der auf die Knie sinkt, als Nächstes den Kopf in den Nacken legen und mit voller Lungenkraft einen Schrei ausstoßen, der von unendlichem Schmerz und unauslöschlichem Zorn spricht. Hoffnungsvoll beäugen sie mich.
    Ich richte mich wieder auf, und am linken Bein fällt oder huscht etwas hinab. Ich schüttle das Hosenbein aus und entferne mich.
    Offenbar ist mein Publikum der Ansicht, mein Auftritt hatte nicht gehalten, was ich versprochen hatte. Schweigen und ein beinahe eingeschlafenes

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