Die gelöschte Welt
Bein sind noch keine überzeugende Darbietung. Sie hätten gern noch etwas Stöhnen gehört, vielleicht einen heftigen Anfall oder ein Finale mit unsichtbaren Dämonen und schlimmen Flüchen, das in einem durch Drogen ausgelösten Koma endet. Die erbarmungslosen Kritiker wenden sich wieder einander zu und prüfen, ob möglicherweise Sex in der Luft liegt.
Ich wandere zur Packlehyde Road und komme am Haus der Lubitschs vorbei. Ohne recht darüber nachzudenken, klopfe ich an.
13 Die Mathematik der Liebe • Gute und böse Bienen • Gonzos Verletzungen
Ich habe die Tageszeit – oder Nachtzeit – nicht bedacht. Das Haus schläft. Jetzt stehe ich zwischen den beiden Messinglaternen vor dem Wintergarten und höre die Standuhr im Flur ticken. Es ist schon nach Mitternacht. Sie werden annehmen, etwas sei passiert. Vielleicht sollte ich morgen noch einmal herkommen. Andererseits habe ich sie ja schon geweckt. Ich erkenne Ma Lubitschs behutsames, weichfüßiges Tappen auf der Treppe, und hinter ihr das Tangogeklapper von Gonzos Vater. Der alte Lubitsch trägt schmale Wildlederpantoffeln, die sich geschmeidig um seine kleinen Füße schmiegen. Seine Frau trägt selbst im Winter Sandalen, weil ihre Füße in den Pelzstiefeln, die ihr Sohn ihr im ersten Winter aus Jarndice mitgebracht hat, immer zu heiß werden. Wenn sie wirklich einmal friert und ihre Füße schützen muss, trägt sie Wollsocken. Dann ziehen die Riemen der Sandalen den Stoff straff über ihre riesigen großen Zehen. Socken, die nicht stabil genug sind, reißen nach kurzer Zeit an den Nähten oder fransen über ihren Zehennägeln aus. Oft muss sie auf gekaufte Socken die Sohlen ihrer selbst gestrickten Exemplare aufnähen. Vom Fußgelenk an aufwärts trägt sie daher irgendetwas Graues. Unten aber herrscht ein Durcheinander von Farben und von Dutzenden Restbeständen von Wolle, die sie aus aufgedröselten Pullovern gewann und einem neuen Verwendungszweck zuführte. Entweder sie ist im vergangenen Jahr zerbrechlicher geworden, oder es war ein schlimmer Winter, denn als sich die Tür einen Spaltbreit öffnet, sehe ich einen Fuß – wie ein Brotlaib in einem Weihnachtsmannkostüm – und dahinter einen zweiten mit blaugefrorenen Zehen und gelbgrüner Hacke. Die Messinglaterne leuchtet auf, eine tiefe, misstrauische Stimme sagt gedehnt: »Jaaaaa?« Ich schäme mich und kann den Blick zuerst nicht heben. Dabei weiß ich nicht einmal genau, weshalb ich mich schäme, aber allein die Tatsache, dass ich existiere, muss für sie ein Schock sein. Nun bin ich aber da und verlange etwas von ihnen, sei es Mitgefühl, Unterstützung oder sogar Informationen über Gonzo und seine Absichten. Obwohl ich kein Recht habe, um so etwas zu bitten. Andererseits ist dies meine Zuflucht in schwierigen Zeiten. Nur hier habe ich immer Desinfektionsmittel für meine Kratzer oder nach dem Sturz in den Bach eine gebutterte Scheibe Toast bekommen. Ich kann doch nichts dafür, dass ich ein Monster bin. Das hier ist mein Zuhause.
»Wer ist da?«, fragt Ma Lubitsch eindringlich. »Mein Mann ist auch hier«, fährt sie fort, nur für den Fall, dass ich einen Angriff auf ihre Tugend erwäge. »Er ist bereit, mich zu verteidigen!« Das glaube ich gern, entweder durch einfache Körperkraft oder durch irgendeinen ausgefallenen Trick. Vielleicht sind die Messinglampen mit dem Stromnetz verbunden, und er kann einen Lichtbogen zwischen ihnen entstehen lassen. Vielleicht hat er sich gerade eine Schrotflinte besorgt. Es sind schwierige Zeiten, und Cricklewood Cove hat sicher unter Räubern und anderen Unruhestiftern gelitten.
Ich zögere mit gesenktem Kopf. Offensichtlich muss ich fliehen – es war ein Fehler. Warum stehe ich dann immer noch hier? Hinter mir ist der Weg frei, um ehrlos im Dunkeln zu verschwinden, was sicherlich weniger gemein wäre, als meine Gedanken vor diesen Leuten laut auszusprechen: Ich bin das Produkt der Trauer Ihres Sohnes, ich bin erwachsen geworden und wollte ihm die Ehefrau stehlen. Er hat mich zwar angeschossen, aber dennoch suche ich sein Elternhaus heim und verlange eine Abrechnung, wie auch immer sie aussehen mag (angesichts der jüngsten Enthüllungen sollte ich noch einmal gründlich darüber nachdenken). Viel weniger unangenehm wäre es, mit einer Entschuldigung herauszuplatzen – das falsche Haus, tut mir wirklich leid, bin etwas betrunken – und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Vielleicht könnte ich mich verdrücken und bei den gefundenen
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