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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Tausend leben, bei denen, die so sind wie ich. Vielleicht haben sie noch einen Platz für einen verwirrten Mann mit einer fiktiven Vergangenheit.
    Aber irgendetwas ist mit meinen Füßen passiert. Sie kleben förmlich am Boden. Vielleicht ist das ein Teil des Verteidigungssystems, das der alte Lubitsch in sein Haus eingebaut hat, und wenn ich mich nicht unmissverständlich erkläre, wird gleich ein elektrischer Lichtstrahl hervorschießen, der mich im Handumdrehen verdampft. Immer noch bin ich da. Ich kann erst einen Fuß und dann den anderen heben. Ich kann sogar auf und ab springen. (Wie schön. Ich benehme mich vor Gonzos Eltern wie ein Verrückter. Wundervoll.) Nur weggehen kann ich offenbar nicht. Nein, es liegt auch nicht am Können, sondern am Wollen. Das ist eine höchst ungewöhnliche Idee. Ich werde nicht wieder in der Dunkelheit verschwinden. Ich werde den Kopf heben. Ich will mich sehen lassen.
    Und sie sehen mich. Ich erwidere den Blick des alten Lubitsch, als er sich an seiner Frau vorbeidrängelt (wozu er beide Hände braucht), und vermag kaum zu sagen, wer von uns erstaunter ist.
    Gonzos Vater ist nicht im üblichen Sinne gealtert. Vielmehr hat er eine Topografie bekommen. Seine Haut ist gefaltet, neu gefaltet, doppelt gefaltet, bis sie fast wieder glatt geworden ist. Um seinen Mund und die Augen sind tiefe Verwerfungen entstanden. Sein Gesicht wirkt wie Fels und Wasser mit einer dünnen Schicht Flechten auf den unteren Hängen, und ich betrachte ihn so genau, wie er mich betrachtet. Er reißt die Augen weit auf, kneift sie wieder zusammen: Erkennen, Verwirrung, Misstrauen. Als ich zurückweiche und mich schon halb umgedreht habe, um seiner Ablehnung zu entfliehen, streckt er rasch den knorrigen Arm aus und hält mit Fingern, die Generationen von Bienen überdauert haben, mein Handgelenk fest. Er hält mich auf und zieht mich zurück, tippt mich einmal an, noch mal – und lässt die Hand dabei nach oben wandern, als wollte er Pollen aufklauben. Schließlich fasst er mich auch an der Schulter, um mich neu auszurichten. Er zieht mich weiter unter die Messinglampe auf der linken Seite, dann dreht er mich um und betrachtet auch meine andere Seite. Ohne jede Verlegenheit hebt er die Hand und kneift mich in die Wange, dann drückt er fest auf meine Schultern, damit ich entweder in die Knie gehe oder ihn hochhebe. Und als ich mich beuge, fährt er auf meinem Gesicht hin und her, als wollte er es formen wie eine Skulptur. Seine Haut ist wie braunes Papier. Endlich weicht er zufrieden zurück, hat aber offenbar noch immer keine Ahnung, was er nun mit mir anfangen soll. Er murmelt seiner Frau zu: Ul-li-ye-na? Es dauert einen Moment, bis ich erkenne, dass es ihr Name ist: Yelena Lubitsch. »Dummer Mann«, raunzt sie ihn an und tritt beiseite.
    »Komm rein«, sagt Ma Lubitsch. Sie fragt nicht, was ich will oder wer ich bin. Ich bin auf jeden Fall ein junger Mann an einem üblen Ort, die Strömung hat mich an ihren Strand gespült. Yelena Lubitsch scheut nicht die Verantwortung, die solche Vorfälle mit sich bringen, noch gründet sie ihr Urteil auf rasche nächtliche Erkundungen an der Türschwelle zwischen pendelnden Messinglampen. »Komm rein«, sagt sie noch einmal und diesmal etwas nachdrücklicher, weil ich mit offenem Munde herumstehe wie ein Hund, der nicht sicher ist, ob er lieber im Garten oder am Kamin sein will, und nicht fähig, aus den aufziehenden Wolken die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wie ich so dastehe, gibt sie schließlich etwas wie »Pah« von sich, was wohl bedeuten soll, dass alle Männer Trottel seien, vor allem die jüngeren (und Gott hat sie mit einem ewig jugendlichen Mann gestraft). Sie packt mich mit einem Bruchteil ihrer Kräfte am Ärmel und zieht mich über die Schwelle in ihr Haus hinein. Ich nehme einen neuen Geruch wahr – Honig, Kohle und Möbelpolitur. Nicht unangenehm, aber stark.
    »Setz Wasser auf«, sagt sie, und erst als ich mich umdrehe und feststelle, dass der alte Lubitsch schon verschwunden ist, erkenne ich, dass sie mich meint.
     
    Der alte Eisenkessel ist noch dort, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Er hängt wie eine freundliche Fledermaus über dem Herd. Her Kessel ist ein Wundertäter, eine endlose Quelle heißen Wassers, das zum Baden, für medizinische Anwendungen und wenn nötig auch für Tiere verwendet wird. Zugleich stellt er eine Gefahr dar. Keine große, aber immerhin eine verdeckte und schmerzhafte Gefahr. Es gibt in Ma Lubitschs Küche keinen Ort, wo

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