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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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kein Thema mehr. Ich habe bereits eingekauft. Ich gebe Geld aus. Ich habe Geld. Ich werde mit respektabler Kleidung Royce Allens Laden verlassen und brauche sie nicht, um den Laden überhaupt erst betreten zu dürfen. Die Tür auf der anderen Straßenseite öffnet sich, ehe ich sie erreiche.
    Fünf Minuten verbringe ich damit, in Royce Allens Konfektionsware herumzukramen und die Sachen zu bewundern, während mir ein nervöser Assistent nickend hin und her folgt. Ich aber gebe kleine, unzufriedene Laute von mir und erkläre, dass (obwohl alles, was ich sehe, in jeder Hinsicht von allerbester Qualität ist) maßgeschneiderte Ware doch sicherlich angenehmer wäre. Ich probiere ein Hemd an, in dem ich wie ein Gott aussehe, und deute an, es kneife ein wenig unter den Achseln. Ja. Eindeutig, es drückt tatsächlich … welche Art Faden Royce Allen wohl für seine Nähte benutzt? Es fühlt sich so rau an. Der Assistent versichert mir, der Faden sei aus feinstem Babyhaar und bester Angorawolle gewirkt, etwas Weicheres gebe es nicht. Ich seufze. Dann muss es der Stoff sein, wie schade. Nein, nein, der Stoff sei Baumwolle, die von Kindersklaven gepflückt werde. Sie müssten jede Stunde ihre Hände waschen und befeuchten, damit ihre Finger die Fasern nicht auftauten. Natürlich bluteten sie auch, aber ihr Blut enthalte dank einer streng kontrollierten Ernährung einige Chemikalien, die sogar noch die luxuriöse Geschmeidigkeit des Stoffes verstärkten. Das Blut werde natürlich mit einem mineralischen Reinigungsmittel, das aus zerstoßenen Diamanten und dem Speichel von Jungfrauen besteht, auf hygienische Weise herausgebleicht, was den Glanz und das Schimmern sogar noch verstärke und dem fertigen Hemd beinahe die Festigkeit einer Schutzweste verleihe.
    Bekümmert erkläre ich ihm, dass ich nach dieser Diskussion eine trockene Kehle habe. Es sei meine Absicht, später oder vielleicht auch erst nächste Woche zurückzukehren, nachdem ich meine Schleimhäute befeuchtet habe. Höflich lehne ich ab, die Angelegenheit weiter zu diskutieren. Ich bin so höflich, dass es fast schon wieder grob wirkt. Mit sanftem Hüsteln erinnere ich Royce Allens Assistenten daran, dass ich auf gar keinen Fall weiter mit ihm schwatzen will, weil – vermutlich wegen der Zeit, die ich am Telefon damit verbringe, Leute zu feuern und das Schicksal von Millionen festzulegen – mein Kehlkopf schrecklich wehtut. Er ruft einen Untergebenen, der ein Tablett mit Getränken bringt. Royce Allens Geschäft ist förmlich von Untergebenen überflutet, die mit Stoffproben und Rollen kommen und gehen. Hin und wieder dringt auch die Stimme des großen Mannes selbst aus den Umkleidekabinen: »Freddie, hol bitte den blauen Flanell für Mr Custer-Price. Fr möchte ihn vor dem Karomuster betrachten.« Freddie oder Tom, Phylis oder Betsie oder sonst jemand sputet sich und wendet den Blick ab, um Mr Custer-Price in seiner teilweisen Nacktheit nicht in Verlegenheit zu bringen. Ich zögere beim teuren Scotch und dem Armagnac, entscheide mich aber schließlich für ein Glas üppigen roten Claret. Ich halte ihn mir unter die Nase und werde fast ohnmächtig. Er riecht nach alten Häusern, betagtem Holz und dunklen Geheimnissen, aber auch nach heißem, hartem Sonnenlicht hinter alten Fenstern und langen, wollüstigen Nachmittagen in einem Himmelbett. Das ist kein Wein, das ist das ganze Leben, konzentriert in diesem Glas. Ich nippe daran. Feuer und Fruchtaroma ergießen sich über meine Zunge.
    »Oh, der ist gar nicht so übel.« Ein glatter Rufmord. Ich setze mich. Der Assistent entspannt sich ein wenig und fragt, ob es mir etwas ausmachen würde, einen Augenblick zu warten, während er Mr Royce Allen persönlich holt. Ich entscheide, dass es mir nichts ausmacht, und trinke noch einen Schluck. Nein, es macht mir nichts aus.
    Royce Allen ist ein herzlicher Kerl mit Wurstfingern und dem obligatorischen Metermaß um den Hals. Er ist nicht so sehr salbungsvoll, sondern eher balsamisch, schwebt aus den Anproberäumen herbei und begrüßt mich mit Handschlag, um mir anzuvertrauen: Seit er von meiner Ankunft in Haviland gehört habe, habe er gehofft, ich würde vorbeischauen. Er habe sich schon Sorgen gemacht, ich könne diesem Tuchmetzger Daniel Prang zum Opfer fallen. Ich schwöre ihm, dass mich das falsche Glitzern von Prang niemals auch nur eine Sekunde verlockt habe. Er schätzt mich nicht nur als mächtigen, sondern auch – und das ist sehr, sehr selten, Sir – als Mann von

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