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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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meisten genießt. Ich will ihm nicht den Spaß verderben, offensichtlich ist er aber der Ansicht, ich müsste unbedingt etwas treten, also darf ich die letzte Leiche allein behandeln. Wir lassen den Ninja von dem Brett in eine Grube gleiten und bedecken ihn. Ich setze mich auf einen Stein und stöhne. Ich heule – weine aber nicht. Vielmehr ist es ein abgrundtiefer Laut der Enttäuschung. Die Mitglieder des Matahuxee Mime Combine umringen mich und schauen verlegen drein. Der alte Lubitsch legt mir eine raue Hand auf die Schulter, aber das macht es nur noch schlimmer. In diesem Augenblick kann ich seine Anerkennung nicht annehmen. Ich habe, mir selbst zum Trotz, das Richtige getan. Jetzt starre ich ins Leere. Die Welt ist viel zu grell.
    Der alte Lubitsch hockt sich neben mich.
    »Sie brauchte einen sicheren Ort«, sagt er, ohne mich anzusehen. Ich glaube, er hat Schuldgefühle.
    Ich würde ihm gern sagen, er müsse sich nicht dafür entschuldigen, dass er der Frau seines Sohnes in schwierigen Zeiten einen Unterschlupf geboten hat. Stattdessen gebe ich eine Art trockenes Grunzen von mir. Er scheint zu verstehen, was es bedeutet. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich hoffe, er sagt nichts mehr.
    »Es ist nicht leicht«, sagt der alte Lubitsch. »Du hast das richtig gemacht.«
    Ich wollte es eigentlich gar nicht. Ich wollte böse sein, konnte es aber nicht und habe dabei versagt. Das ist nicht das Gleiche.
    »Du hast es richtig gemacht«, sagt der alte Lubitsch noch einmal. Wir sitzen da, er starrt ins Leere und beobachtet etwas sehr Fernes, Privates.
    »Du siehst ihm ähnlich«, sagt der alte Lubitsch.
    Gonzo?
    »Nein«, erklärt der alte Lubitsch. »Nicht Gonzo.« Seine Stimme bebt ein wenig. Die Pantomimen haben den Garten wieder verlassen, wir sind allein. Ich drehe mich nicht zu ihm um, weil ich es nicht ertragen könnte, ihn weinen zu sehen.
    »Nicht Gonzo.« Dann steht er auf und entfernt sich. Ich bin wieder allein.
    Etwas geschieht mit meinem Mund. Er verzerrt sich und öffnet sich, meine Augen werden wässrig, aus meiner Kehle und meinem Bauch kommen tiefe, heisere Laute. Es ist wie Weinen, aber auf die gleiche Art, wie Wein mit Wasser zu tun hat.
    Seltsam schlanke Arme umfangen mich. Sie sind aber kräftig und warm. Die schwarzen Flügel eines Bühnenmantels legen sich um mich und halten mich warm. Dr. Andromas. Die Arme wiegen mich, die behandschuhten Hände streichen über meine Haare. Ich lehne das Gesicht an den Kopf mit der eigenartigen Schutzbrille. Dr. Andromas ist zu unförmig, um ihn ganz zu umarmen, aber er ist sehr liebevoll. O ja. Kamerad Kuh ist Dr. Andromas. Er versteht was von Umarmungen. Aber warum weinst du über mir, Doktor? Weinst du bei allen deinen Patienten?
    Dr. Andromas wiegt mich – und meine Wunden heilen. Wieder einmal.
    »Es tut mir leid«, erkläre ich Dr. Andromas' Oberarm. »Es tut mir leid.«
    Vielleicht wispert jemand »sch-scht« hinter dem Schleier. Die schmalen Schultern strecken sich, die Hände rutschen ein Stück auf meinem Rücken herum, verharren und halten mich fester als zuvor. Der Einzige, der mir dies jetzt geben kann, ist ein Fremder.
     
    Ich habe beschlossen, dass ich allein nach Haviland reisen muss. Gonzo ist nach Haviland gefahren. Von dort kam Dickwash. Dort findet der feindliche Plan statt, ob er da nun auch ausgeheckt wurde oder ob die Stadt nur eine Station in seinem Verlauf ist. Ich muss rasch und leise dorthin gelangen. Das ist mir jedoch nicht möglich, wenn mir eine kleine Armee von Neo-Marceaus mit Baskenmützen folgt. Ich sollte in verschwiegenen Räumen Fragen stellen. Das Matahuxee Mime Combine ist keine verdeckte Operation. Es ist, zumal für eine völlig stumme Menschengruppe, verblüffend laut. Deshalb sagte ich Ike, wir müssten uns – wenigstens vorübergehend – trennen. Ich wundere mich selbst, wie schwer mir das fällt. Ike ist ein Freund geworden.
    Aber Ike ist nicht das Problem.
    Dr. Andromas dreht sich und beäugt mich, dann wirft er Ike einen Blick zu. Der zuckt nur mit den Achseln. Andromas macht eine gereizte Geste, als wollte er sagen, ich sei ein Idiot, aber das ändert auch nichts. Es ändert nichts an der offenkundigen Absicht des Doktors, mich nach Haviland City zu begleiten.
    »Das nützt nichts«, sagt Ike Thermite. »Starr mich nicht so an.«
    »Er arbeitet für dich.«
    Andromas verdreht die Augen und wendet sich an Ike, der seufzt.
    »Andromas«, sagt Ike, »arbeitet für Andromas.«
    »Ich fahre allein.«

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