Die gelöschte Welt
Dokumente und Mr Crabtree
• Ich kriege einen Tritt in den Arsch
»Der schlichte Weiße da«, sagt Libby Lloyd entschieden. Sie streicht eine Haarsträhne zurück.
Libby Lloyds Geschäft liegt im noblen Viertel von Haviland, das eigentlich die ganze Stadt umfasst und nur diejenigen Teile ausnimmt, die nach Ansicht der Einwohner sowieso nicht zur Stadt gehören, wie etwa die Slums und die Schlafstädte. Es war nicht schwer zu finden. Ich ließ Annabelle außerhalb an einer Raststätte stehen und fuhr mit dem Bus ins Zentrum, wo ich mich bei einer Touristin nach den besten Geschäften erkundigte. Sie konsultierte einen kleinen Reiseführer und erklärte mir, die besten Schnäppchen könne man drüben im Westen des Platzes machen. Ich bedankte mich bei ihr und wandte mich nach Osten. Andromas tappte eine Weile hinter mir her, dann verschwand er in einem Hauseingang, um in einem Schaufenster die Reihen glitzernder Ringe und Halsreifen anzusehen. Ich rechnete damit, dass er wieder auftauchte. Aber das geschah nicht. Vielleicht ist er wirklich unsichtbar, oder er hat eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Wie auch immer, er nervt jedenfalls nicht mehr. Ich wende mich wieder an Libby Lloyd.
»Der mit den Streifen gefällt mir besser.«
»Die Anzüge mit Streifen sind bei höheren Managern sehr beliebt.« Zwischen den Zeilen: Du bist garantiert keiner.
»Wundervoll«, erkläre ich ihr energisch. Zwischen den Zeilen: Warum, um alles in der Welt, hast du mir bloß diesen anderen Mist gezeigt?
Libby Lloyd nimmt eine Neueinschätzung vor. Sie kennt mich nicht, also hat sie angenommen, ich sei nicht wichtig. Andererseits kaufe ich in ihrem absurden kleinen Geschäft am Haviland Square unangenehm enge Sportkleidung. Außerdem interessiere ich mich für Spitzenprodukte und achte auf Qualität. Ein neuer Kunde. Ein neuer Manager. Möglicherweise unverheiratet. Sie wirft den Kopf herum. Die Bewegung ist genau berechnet. Eine Hand kommt hoch und berührt ganz leicht die Haare. Die andere liegt auf dem Bauch und zeigt mir, wie flach er ist, was die Aufmerksamkeit auf ihren elegant geformten Busen lenkt. Die abrupte Drehung des Halses lässt das blonde Haar um sie herumfliegen und wie einen Fallschirm auffächern, leicht und fedrig und nach streichelnden Händen förmlich schreiend. Wie ein Dunst fällt es wieder herab, und sie feuert einen kurzen schmachtenden Blick auf mich ab, bevor sie wieder professionell und kühl wird. Man könnte schwören, man hätte ihn nicht bemerkt. Libby Lloyd verdient in einer Woche mehr Geld, als ich je auf einem Haufen gesehen habe. Geld ist aber nicht das Thema. Das Thema ist der Zugang. Auch wenn man die exklusivste Sportboutique in Haviland führt, ist und bleibt man ein Ladeninhaber. Man ist kein Teil des Systems, zu dem Libby Lloyd gehören will. Ich weiß das, weil in Haviland alle, die nicht drin sind, hineinwollen, während alle, die drin sind, sich bemühen, die anderen draußen zu halten. Der Himmel der Bürotrottel. Eine kurze Unterhaltung übers elektrische Telefon mit K (der Erste und immer noch der Beste) rundete mein dürftiges Wissen über das Leben in dieser Stadt ab. Im Grunde, sagte K, geht es so: Je lächerlicher du dich benimmst, desto bereitwilliger glauben sie, du hättest das Recht dazu.
Ich zahle bar. Zwischen den Zeilen: Eure armseligen Banknoten bedeuten mir überhaupt nichts. Hahaha! Libby Lloyd klimpert mit den Wimpern. Es ist ein großer Geldschein. Wenn das dort, wo ich herkomme, Taschengeld ist, das man einfach so bei sich trägt, dann möchte sie mich gern näher kennenlernen. Ich zögere, als ich zur Tür gehe. Libby Lloyd wirft sich in die Brust. Jetzt sollte ich sie wohl fragen, ob sie später noch zu tun hat, weil ich zu einer Party will und sonst niemanden in der Stadt kenne.
»Ich frage mich …«, sage ich fröhlich.
»Ja?« Zwischen den Zeilen: Nimm dir, was dein Herz begehrt.
»Wer macht in Haviland eigentlich die besten Anzüge?«
Enttäuschung, gedämpft durch Geduld. Zwischen den Zeilen: Du wirst mir gehören.
»Royce Allen«, sagt sie entschieden. »Das ist gleich gegenüber. Schauen Sie doch noch mal bei mir rein, wenn Sie ihn abholen.« Sie lächelt und klimpert mit den Wimpern. Ich könnte schwören, einen Luftzug zu spüren.
Die Einkaufstüte von Libby Lloyd ist der Einlass für die höheren Weihen. Ein goldener Buchstabe auf glänzend weißem Untergrund ziert sie, und mit diesem Beutel unterm Arm sind meine ungepflegten Kleider einfach
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